Das Lob der Langsamkeit

Peter Lichtefeld entdeckt die Poesie des Kursbuches

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Es ist der Showdown und der Leader führt souverän mit 8:34 Minuten. Es ist die Endrunde der „1st International Time-Tabel Competition“ und jetzt steht die Entscheidung an: Die beste Verbindung von München nach Inari. Der Mann zögert einen Augenblick, uns stockt der Atem, und wählt auf der Tastatur die Route über Nordschweden. Und wir beobachten auf der animierten Grafik, wie sich sein Zug langsam durch Europa quält und wir ahnen, dass er verlieren wird und wir lieben ihn darum. Denn diese dröge Grafik zeigt uns die wunderbarste Liebeserklärung. Denn, so hatte Sirpa zu Hannes gesagt, die schönste Route nach Inari führe über Nordschweden. Und was am Ende sogar Hannes weiß, das weiß Peter Lichtefeld schon lang: Dass die schönste Route nicht zwingend auch die schnellste ist. Deswegen gelingt dem Regisseur nicht der schnellste, aber einer der schönsten deutschen Filme. Und zeigt, wie einer auch ganz langsam und ganz leise, mit dem Kursbuch in der Hand und statistisch durchschnittlicher Lebenserwartung, an die Himmelstür klopfen kann.
Dieser Film des über vierzigjährigen Peter Lichtefeld ist ein großes Staunen und ein kleines Wunder. Ein Staunen über den Mut zur Langsamkeit und das Wunder, uns darüber staunen zu machen. Denn die Geschichte, die er erzählt, reduziert sich auf einen Grundeinfall und die Botschaft, die er verbreitet, wird keine sonderliche Originalität beanspruchen wollen: Eile mit Weile, sonst verpasst du das Leben. Aber Kunst ist nicht die Originalität ihrer Botschaft, sie ist die Authentizität ihrer Gestalt. Es ist die Kunst, einen alten Gedanken zu erzählen, als sei er soeben entdeckt worden in eben dieser Geschichte.
Hannes, der Bierbeifahrer, lebt mit einer etwas skurrilen Leidenschaft, der Liebe zu den Kursbüchern, der Faszination, zur rechten Zeit am rechten Ort den Zug zu wechseln. So nimmt er den Zug nach Inari, Finnland, 500.000 Mark für den Gewinner beim internationalen Kursbuch-Wettbewerb. Und bis dahin geschieht – nichts. Die Weise, auf die nichts, beinahe nichts geschieht, das ist der Film.
Der biedere Mann steht im Verdacht, seinen Chef ermordet zu haben, dabei, er hat ihm nur eine gedrückt, er trifft einen öligen Schlafwagenschaffner mit Blüten im Gepäck und einen netten Undercover-Bullen mit ausschweifenden Kenntnissen der Geografie, er trinkt Bier mit einem finnischen Milchfahrermann und seiner finnischen Baggerfahrerfrau, er verliebt sich, sehr langsam, in eine finnische Reisende, die irgendwann das Blumenwasser in den Computer ihres Freundes gießt; und weil sie das tut, wird er den Wettbewerb nicht gewinnen und dennoch ein glücklicher Mann sein. Das ist so ziemlich alles und es ist ziemlich schön. Denn Peter Lichtefeld ist ein Beobachter, ein Hinschauer wie er selten ist im deutschen Kino.
Wir sehen am Anfang das Transparent des Wettbewerbes, einen wunderbaren See und dann den Wasserkessel des Junggesellen. Bevor er in den Bierwagen steigt, übt er über den Kursbüchern, er spielt Schach an dem Kiosk an der Ecke und die Blonde aus dem Lager schenkt ihm eine Stange „Cabinet“, doch der reine Tor versteht die Botschaft nicht. Der Stau auf der A 44 im Radio, irgendein Kreuz hat irgendein Problem, und das südliche Nordamerika im Kursbuch. Und nach zehn Minuten wissen wir so gut wie alles über den Mann, über den wir so gut wie nichts wissen. Peter Lichtefeld hat es uns erzählt, indem er fast nichts gesagt, aber viel gezeigt hat. Er benutzt schön geschnittene, lakonische Einstellungen, in deren spröder Komposition ein leiser, unaufdringlicher Humor lächelt. Damit kann er sogar – eine schöne Miniatur -, Sergio Leones Lied vom Tod zitierend nachbauen in Finnland und seine Bullen Stefan und Harry nennen – und nie wird es zu dieser krafthubernden Ich-kenne-ganz-viele-Filme-Nummer. Wunderbare Schauspieler, der sanft-biedere Joachim Król, dessen leise Skurrilität immer noch eine glaubhafte Geschichte erzählt, der cool-rotzige Peter Lohmeyer, der mit seinem Gesicht erzählen kann, dass sein Gefühl schon mehr weiß als sein Verstand.
Eingebettet ist die lakonische Geschichte in Reisebilder, die schön sind auf eine Weise, die vom „Kulturfilm“ so weit entfernt ist, wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ von den Karl-May-Festspielen. Eine Inszenierung, die dafür steht, dass der harmonische Film nicht zwingend der banale Film zu sein hat, wenn er seine Glaubwürdigkeit zu behaupten vermag.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben: 1998

Text: veröffentlicht in filmspiegel

Bild: Galileo