Hunger nach der tiefen Stille

Jodie Foster ist großartig und enttäuschend

Der Mann hält eine Tüte Popcorn in der Hand, die Frau streckt verlangend die Hand. Sie hat Angst, den schützenden Bann ihrer Hütte zu verlassen und der Mann steht lockend im Freien. Da hält es Nell nicht mehr aus, zögernd folgt sie dem süßen Locken der Zivilisation und tritt erstmals unter den hellen Himmel des Tages. „Jetzt kann sie ins Kino gehen.“ sagt Jerome lachend. Dabei hat sie es nie verlassen.

Ihr Name ist Jodie Foster und sie ist eine der besten Filmschauspielerinnen der Gegenwart. Sie hat, 32 Jahre alt, zwei Oscars gewonnen und könnte die erste Frau der Filmgeschichte werden, die den Dreifachen schafft. Dieser Film ist ihr erster Anlauf dazu. Sie hat eine eigene Produktionsfirma gegründet, ihr Name war gut für dreistellige Millionenbeträge ohne Auflagen. Die Rollen derer, die anders sind, die reinen, unbefleckten Toren, das sind die Figuren für Schauspieler, die die ganz Hohe Schule reiten. Dustin Hoffman war ein wunderbarer Rain Man, Tom Hanks wird, wenn es rechtens zugeht, den Oscar als Forrest Gump erhalten, Holly Hunter erhielt ihn am „Piano“. Und Jodie Foster? Sie ist nominiert und womöglich wird sie gewinnen, nur: Dieser Oscar würde eine Klasse tiefer vergeben.

Es ist die zeitlos faszinierende Geschichte des wilden Kindes, Kaspar Hauser und Tarzan sind Facetten des gleichen Problems: Wie entwickelt sich ein Mensch unter Ausschluß der Öffentlichkeit, der Zivilisation? Ist die fehlende Verfügbarkeit einer tradierten Sprache gleichbedeutend mit dem Verlust der Denkfähigkeit? Zudem, in einer Gesellschaft, deren menschliche Berührungsräume gefährdet scheinen durch die wachsende Dominanz ihrer globalen Kommunikationstechnologien, wird das Berufen archaischer Formen des Lebens zunehmend zum sehnsuchtsvollen Gegenentwurf des Bestehenden.

Wie Nell.

Die lebt tief im Walde, spricht eine Sprache, die nur noch ihre Mutter und die Zwilligsschwester sprachen. Jerome Lovell, der wackere Landarzt und Paula Olsen, die (zunächst) kühle Psychologin tragen den Streit aus, ob Nell das Recht habe, ihr Leben zu leben oder die Gesellschaft in der Pflicht sei, das wilde Kind zu sozialisieren. Sie haben drei Monate Zeit – dann wird das Gericht – entscheiden – die Frau zu beobachten, Vertrauen zu schaffen. Der Arzt baut sein Zelt im Walde, die Psychologin macht das Hausboot fest.

Ein mythisch wallendes Blau liegt über dem nächtlichen See, Dämpfe wabern hinauf, der Wald ist verhangen von freundlicher Dunkelheit und die geheimen Zauberwinde wehen. Am Ufer steht eine Frau und legt sich in den Wind, ihre Silhouette markiert sich gegen das blaue Licht. Sie breitet die Arme aus, sie legt den Kopf zurück und blickt mit geschlossenen Augen nach Hause. Es ist wie eine rituelle Beschwörung, ein Vorgang jenseits unserer Welt. Es ist ein wunderschönes Bild. Und als ich das gerade empfinde, da sagt der Mann am Ufer, wie schön es sei, und dazu macht er die bewundernden Augen, die ich machen soll.

Das ist das Problem.

Jodie Foster ist eine wunderbare Schauspielerin, sie verfügt über eine Art von kühlem Perfektionismus, den sie nicht ablegen kann. Das war lasziv in „Taxi Driver“, das war schön in „Sommersby“ und es war faszinierend als die Lämmer schwiegen. Hier ist es störend. Sie nicht annährend so gut wie Holly Hunter, wie es Dustin Hoffman und Tom Hanks in vergleichbaren Rollen waren, was meint: So glaubwürdig, so an die, Pardon, Seele rührend. Nell, das ist eine hochtrainierte, virtuose Kunstleistung, der sich wohl niemand gänzlich zu entziehen vermag: Aber es bleiben artifizielle Nummern, denen Szene und Licht, das Ensemble und Michael Apted („Gorillas im Nebel“) die Rahmenbedingungen schaffen, auch das Buch ist so geschrieben. Es bleibt, trotz Liam Neeson, der Spielbergs Schindler war, ein Team mit der Aufgabe, den Star zu rahmen. So ist, was um Nell herum geschieht, von professioneller Routiniertheit. Nie entläßt Nell mich aus der Situation des Kunst-Voyeurs und nie ermöglicht sie mir, die Seele treiben zu lassen.

Jodie Foster bleibt eine Nummer, eine sehr gute, aber: Eine Nummer, nicht Nell. Viele empfinden das anders, der Film führt die deutschen Kinocharts. Am Ende eine Gerichtsszene, sehr gut, sehr unglaubwürdig, die Zusammenfassung. „Ihr hungert nach der Stille“ sagt Nell in ihrer Sprache.

So ist es, indessen, wir bekamen nur Kino.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben März 1995

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine