Der Ungar Béla Tarr gehört zweifellos zu den Philosophen des Gegenwartskinos. Eskapistische Unterhaltung ist seine Sache nicht. Er will das Vergnügen des Denkens vermitteln. Am Anfang des Films wird auf eine angeblich wahre Begebenheit verwiesen: Am 3. Januar 1889 soll Friedrich Nietzsche beobachtet haben, wie ein Kutscher ein störrisches Pferd misshandelte. Der Philosoph warf sich dem Pferd um den Hals. Danach lag Nietzsche zwei Tage schweigend auf dem Sofa, sprach dann noch einmal ein paar Worte und blieb für die nächsten zehn Jahre, bis zu seinem Tod, stumm.

Warum Tarr seinen Film damit beginnt, erklärt er im Folgenden nicht. Vielen Interpretationen stehen die Türen offen. Zu sehen sind sechs gekennzeichnete Kapitel einer düsteren Erzählung: sechs Tage voller Leid und Schmach. Tarr und sein Kameramann Fred Kelemen zeigen mit stoischer Ruhe den kargen Arbeitsalltag eines Bauern/Kutschers (Janos Derzsi) und seiner Tochter (Erika Bok) auf dem Land. Es ist windig. Rundum gibt es nichts Anheimelndes. Wasser gibt’s aus dem Brunnen. Menschen kommen kaum vorbei. Schlafen, Essen, Holzhacken, Anspannen des Pferdes im Stall – Eintönigkeit ist angesagt. Doch es kommt schlimmer: das Licht bleibt aus, es kann kein Feuer mehr für die Kartoffeln gemacht werden, das Wasser versiegt. Eine Katastrophe erscheint als unausweichlich.

Wer mag, kann den Film als Weltuntergangsphantasie verstehen. Die exzellent gestalteten Bilder lassen viele Deutungen zu. In jedem Fall zeigen sie das Erstarren alles Lebendigen auf höchst eindrucksvolle Weise. Aber warum erstarrt es? Sind es Zeitumstände, örtliche Gegebenheiten, oder doch vor allem innere Befindlichkeiten der Menschen? Das Publikum muss nicht nur nach Antworten suchen, es muss schon erst einmal Fragen für sich finden. Das ist der große Reiz, der vom Film ausgeht: Man wird als Kinobesucher tatsächlich zum Mitgestalter. A und O des Films: Kelemens Tableaus. Dem Kameramann gelangen atemberaubend schöne Gemälde, wunderbare Kompositionen von Licht und Schatten, in denen die Akteure das archaische „Spiel“ überaus authentisch anmutend entfalten können.

Ganz klar: Wer Action sucht, sollte sich den Film nicht anschauen. Alle aber, die sich gern auf ein Changieren zwischen Bildender Kunst, Literatur, Theater, Film, Philosophie einlassen möchten, dürften einen Hochgenuss erfahren. Schön, dass der rührige Berliner Basis-Film Verleih den Mut hat, den wohl kaum zum Kassenschlager tauglichen Film in die Kinos zu bringen!

Peter Claus

Das Turiner Pferd, von Béla Tarr (Frankreich/ Schweiz/ Ungarn/ Deutschland 2011)

Bilder: Basis-Film