In Locarno gab’s für dieses Anti-Kriegs-Drama, dort uraufgeführt auf der Piazza Grande vor etwa acht, neun Tausend Zuschauern, den durch Umfrage ermittelten Publikumspreis. Der Film hat sich damit gegen allerlei Unterhaltsames durchgesetzt. Beachtlich!

Leichte Kost wird nicht geboten. Regisseurin Cate Shortland beschreibt Schicksale von Kindern und Jugendlichen am Ende und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. In Locarno wurde die Australierin, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, nicht müde, zu betonen, sie sei eine der ersten, die sich dem Schicksal von Kindern im Banne von Kriegsschrecken zuwende. Unkenntnis? Hat sie wirklich nie etwas von Bernhard Wickis „Die Brücke“ oder von Elem Klimows „Geh und Sieh“ gehört? Oder ist das vorgeschützte Unbedarftheit? Die jedenfalls – und die Tatsache, keine Deutsche zu sein – hat es ihr offenbar relativ leicht gemacht, geradlinig über die Zeit unmittelbar nach der Zeit der Nazischrecken zu erzählen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, das Volk der Täter zum Volk der Opfer zu machen und die grauenvollen Leiden der von den Nazis Niedergetrampelten, Ermordeten, Geschändeten zu verharmlosen. Schon das ist beachtlich.

Die Story beginnt mit dem Ende. Der Krieg ist vorbei. Im mehrfach besetzten Deutschland herrscht Ratlosigkeit. Später wird man diese Periode die „Stunde Null“ nennen. Doch von Unschuld kann keine Rede sein. Weshalb vor allem Angst herrscht. Schließlich wäre es nicht verwunderlich, wenn die Sieger der Geschichte so mit den Verlierern umgingen, wie die sich der Welt gegenüber aufgeführt haben: gnadenlos, brutal, unmenschlich. So geht es auch den linientreuen (namenlosen!) Eltern (Ursina Lardi und Hans-Jochen Wagner) und ihrer gerade mal vierzehnjährigen Tochter Lore (Saskia Rosendahl). Die Eltern fliehen und lassen die Halbwüchsige mit vier kleineren Geschwistern im Schwarzwald allein. Dem kleinen Trupp bleibt nichts anderes übrig, als sich auf den Weg Richtung Nordsee zu machen. Dort lebt die Großmutter (Eva-Maria Hagen). Die Odyssee dorthin nimmt den Hauptteil der Handlung ein. Dabei guckt der Film vor allem auf Lore. Total im Sinne der Nazis erzogen, kann sie sich emotional und mental natürlich kaum orientieren. Eine erste Prüfung wird die Begegnung mit einem jungen Mann, Thomas (Kai-Peter Malina), der erzählt, dass er als Jude gerade aus dem KZ Auschwitz kommt. Juden sind für das Mädchen, so hat man es ihr eingetrichtert, „Untermenschen“, Feinde, Minderwertige. Doch langsam kommen Zweifel und Ahnungen und Lore beginnt zaghaft, sich selbst Fragen zu stellen.

Der Blick auf die Jugendliche und auf die Kinder, entnommen der Romanvorlage von Rachel Seiffert, lässt einen unverkrampften Blick zu. Der verhindert, dass sich falsches Pathos breit machen kann. Davor bewahrt auch die Bildgestaltung, die überwiegend auf impressionistische Momentaufnahmen vertraut. Sie lassen das Flüchtige der „Zwischenzeit“, die die Nachfahren der Nazi-Verbrecher bewältigen müssen, sehr genau deutlich werden. Die Frage nach Schuld und Sühne bekommt dadurch eine enorme Kraft und provoziert auch beim Zuschauer ein Nachdenken über die heutige Lage der Welt. Leider gleitet der Film im Finale, wenn der Trupp die Großmutter erreicht hat, zu sehr in didaktische Direktheit. Es sieht fast so aus, als müsse nun schnell, schnell Schluss gemacht werden – ohne offene Fragen, ohne Bedenken, ohne Zögern. Da wird der Film denn plötzlich kleiner als er bis dahin ist. Wieder einmal wäre es gut gewesen, nicht so „politisch korrekt“ zu erzählen, den Mut zur Lücke zu haben. Dennoch: eine Empfehlung. Denn im Reigen der Anti-Kriegsfilme besticht dieser durch seine Originalität und den weitgehenden Verzicht auf die Anpassung an die derzeit gängigen simplen Erzählmuster.

Peter Claus

Lore, von Cate Shortland (England/ Australien/ Deutschland 2012)

Bilder: Piffl