Gerade zeigt das nun schon 22. Festival des Osteuropäischen Films in Cottbus in zahlreichen Filmen die Formen von Not, die von der Allmacht des Kapitals ausgelöst werden. Dabei stellt sich als ein Schwerpunkt heraus, dass Religiosität den Menschen durchaus Hilfe sein kann, dass sie jedoch oft, weil in Fanatismus übersteigert oder weil von bigotten Vertretern von Glaubensgemeinschaften zu Handlangern der Profiteure gemacht wird. Ein Thema, das derzeit offensichtlich weltweit die Gemüter bewegt. Schon vor zwei Monaten, beim Filmfestival in Venedig, ging es in den Filmen oft genau darum. Der südkoreanische Regisseur Kim Ki-duk legte mit „Pietà“ einen der kräftigsten Beiträge dazu vor – und gewann (zu Recht!) den Hauptpreis, den Goldenen Löwen.

Kim Ki-duk spürt der Frage nach, was passiert, wenn schlichte Menschlichkeit vollkommen der Jagd nach dem Mammon geopfert wird. Er tut das mit einem nervenaufreibenden Thriller und zeichnet damit ein düsteres Bild der westlichen Welt. Anders als im Jahr 2000 in „Die Insel“ braucht er dieses Mal keine weithin ausgestellte Gewalt. Sie ist da, wird jedoch fast immer indirekt gezeigt, so dass der Schrecken erst im Kopf des Zuschauers Gestalt gewinnt. Die angeblich zivilisierte Welt wird dabei als Raubtier-Areal sichtbar: Wer nicht frisst, wird gefressen.

Der Film beginnt mit der Beschreibung des Arbeitsalltags eines jungen Mannes: Gang-Do (Lee Jung-Jin) ist ein Schuldeneintreiber. Er geht für seinen Erfolg wirklich über Leichen. Und wenn nicht das, dann macht er seine Opfer doch zu Krüppeln, um über entsprechende Versicherungen das Letzte an Geld aus ihnen heraus zu pressen. Eines Tages, er kommt erschöpft von seinen Pflichten, beginnt eine Unbekannte (Jo Min-Su), sich an seine Fersen zu heften. Die Frau sagt, sie sei seine Mutter. Gang-Do hat seine Mutter nie getroffen. Erst ist er abweisend, misstrauisch, dann glaubt er der Fremden. Erstmals fühlt er so etwas wie familiäre Geborgenheit. Um die nicht zu gefährden, kündigt er seinen brutalen Job auf. Da aber wird die Frau entführt. Gang-Do macht sich auf die Suche nach ihr. Und nun bekommt er, der bisher nichts als ein gefühlloser Handlanger des Kapitals war, die ganze Grausamkeit einer Gesellschaft zu spüren, die tatsächlich alles und jeden dem finanziellen Erfolg unterwirft.

Die Bilder des Films sind von beunruhigender Stille geprägt. Allüberall scheint der Schrecken zu lauern. Kim Ki-duk hat nicht zufällig in einem ärmlichen Stadtviertel von Seoul gedreht, das derzeit von Baumaschinen platt gewalzt wird, um Stahl-Glas-Beton-Palästen des Kapitals zu weichen. Platt gemacht wird dabei die Welt der kleinen Handwerker und Händler. Sie passen nicht mehr ins unermüdlich mahlende Räderwerk der wie geschmiert laufenden Profitmaximierung. An den Hebeln dieses Räderwerks gibt es nicht eine einzige moralisch integre Figur. Auch sonst: nur menschliche Wracks. Dies unterstreicht kraftvoll, dass Kim Ki-duk seine bitterböse Ballade vom moralischen Verfall Einzelner tatsächlich als Metapher auf den Triumph der Unmenschlichkeit verstanden wissen will. Dabei kann man den Film ganz flach als Kommentar auf die aktuelle Finanzkrise sehen. Der Titel, „Pieta“, wird zum Schlüssel des Verständnisses. Es geht Kim Ki-duk auch um die Frage, ob Leuten wie Gang-Do Mitleid (italienisch: Pietà) gewährt werden kann. Und es geht darum, wie weit der Glaube an christliche Werte – und damit an ein besseres Leben im Jenseits – von den Profithaien des Kapitalimus’ längst pervertiert wurde.

Unter dem Namen „Pieta“ gibt es bekanntlich seit dem 14. Jahrhundert ein sehr geläufiges Motiv der christlich geprägten Kunst und Kultur: die Darstellung Marias als Mater Dolorosa mit dem Leichnam von Jesus. Auch das greift Kim Ki-duk auf und überlässt es dem einzelnen Zuschauer, ob das als Aufforderung zur Rückkehr zu wahren christlichen Werten oder aber als Abkehr vom Glauben an sich werden soll. So wird der spannende Krimi, bei denen im Publikum, die das möchten, zum anregenden philosophischen Traktat.

Peter Claus

Pieta, von Kim Ki-duk (Südkorea 2012)

Bilder: MFA