Auf das Leben

Bedrückender Beginn: eine alte Dame, offenbar Instrumentenbauerin, wird aus Wohnung und Werkstatt vertrieben. Gerichtsvollzieher und Möbelpacker verrichten teilnahmslos ihre Aufgaben. Die alte Dame, Ruth, blendet das Geschehen aus, repariert eine Mandoline. Am Abend dann: Einzug in eine triste Sozialwohnung. Man ahnt, dass das nicht gut geht…

Ruth (Hannelore Elsner) ist nicht allein Instrumentenbauerin. Viele Jahre hat sie als Sängerin gearbeitet. Jiddische Songs waren ihre Spezialität. Doch das scheint vorbei zu sein. Jonas (Max Riemelt), der junge Hilfsmöbelpacker, entdeckt das durch Zufall. Und er findet noch anderes heraus. Er selbst leidet an einer unheilbaren Krankheit. Und ist, wie Ruth, verzweifelt. Beide wollen nur noch wegrennen vor den Problemen, die sich vor ihnen auftürmen. Unter Mühen und Schmerzen versuchen sie schließlich, einander Halt zu geben. Doch die Schatten aufdas_320_1der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich nicht einfach ausblenden. „Auf das Leben!“ ist die deutsche Übersetzung des hebräischen Trinkspruchs „L’Chaim“. Kein Zufall. 75 Jahre umspannt das Drama. Existentielles wird verhandelt wird. Das geht einem unter die Haut.

Vermutlich werden viele Filmfreunde bei der Kurzbeschreibung an „Harold und Maude“ denken – und entsprechende Erwartungen aufbauen: alte Frau und junger Mann in tragikomischen Verstrickungen. Diese Erwartungen werden nicht erfüllt. Gut so. Regisseur Uwe Janson und dem Drehbuchautorenteam gelang etwas ganz Eigenes. In einer originellen Erzählweise werden die persönlichen Geschichten der Protagonisten zur Reflexion der europäischen, vor allem der deutschen Historie des vorigen Jahrhunderts und des Heute genutzt. Dabei kann man darüber streiten, ob die stilistisch oft aufwendig gestalteten Zeitreisen, die dem Film eine sehr eigenwillige Struktur geben, nicht gelegentlich etwas zu gewollt das Schicksal bemühen. Doch unstreitbar bieten die Hauptdarsteller Hannelore Elsner und Max Riemelt großes Schauspiel. Beider Intensität zieht die Zuschauer mit enormem Sog in den Film und sorgt dafür, dass man sich von dem gedankenschweren Themenkreis um Holocaust, Krankheit und Suizid, Vergebung und Rache, Kunst und Lebenslust nicht nur hingibt, sondern nach dem Kinobesuch so manche Frage an sich selbst stellt. Wie hält man es mit der Zugewandtheit anderen gegenüber? Produzentin Alice Brauner sieht das als A und O des Films: „Ich wollte aus der Geschichte einer Überlebenden eine moderne Filmerzählung machen, die zeigt, dass auch andere Leiden in der Welt existieren, die junge Menschen zur Verzweiflung bringen. Die Erfahrung der älteren Generation und das Empathievermögen der jungen Generation, das ich heutzutage für den Zusammenhalt sozialer Strukturen für immens wichtig halte, das gegenseitige Zuhören und Füreinander-da-sein, spielt in dem Film die größte Rolle.“ Alice Brauner ist die Tochter des jetzt 96-jährigen Filmproduzenten Artur Brauner, dem die Gedenkstätte Yad Vashem vor fünf Jahren eine eigene Mediathek mit zum Beispiel den mehr als zwanzig von ihm produzierten Anti-Nazi-Filmen, wie „Morituri“, Auf das Leben„Die weiße Rose“, „Der Garten der Finzi Contini“, eingerichtet hat. In die Handlung von „Auf das Leben!“ sind Erfahrungen von Alice Brauners Mutter Maria eingeflossen. Alice Brauners Cousine Sharon Brauner verkörpert Ruth in jüngeren Jahren, in den Szenen, die im West-Berlin der 1970er Jahre spielen. Das persönliche Engagement der Produzentin hat ganz sicher wesentlich zum Gelingen des anspruchsvollen Projekts beigetragen, die Intensität gestärkt, die Authentizität.

Schön: hier wird etwas geboten, was im deutschen Kino Seltenheitswert hat: Dialoge und Monologe erklären nicht unentwegt die Gefühle der Handelnden. Vieles bleibt unausgesprochen. Hannelore Elsner und Max Riemelt machen das Nicht-Gesagte hörbar, indem sie den von ihnen verkörperten Figuren eine kraftvolle Emotionalität mitgeben. Das gelingt, weil sie keine Thesen vortragen, nichts erläutern müssen. Wenn beispielsweise Hannelore Elsner in einer Schlüsselszene das Wort „Jude“ herausschreit, wird zugleich ungemein viel das Gestern und über das Heute erzählt, wird klar, unter welchen Ängsten die von ihr verkörperte Ruth leidet.

Am Anfang braucht’s ein wenig, ehe man sich in das Geschehen einfindet. Denn gleich drei Zeitebenen sind miteinander verwoben: Nazi-Terror, die 1970er Jahre im Westen Deutschlands und die Gegenwart. Da gibt es Parallelmontagen, Flashbacks, Traumsequenzen. Gelegentlich sind sogar alle drei Ebenen auf einmal im Bild. Hat man sich daran gewöhnt, bringt einen gerade diese ungewöhnliche „Verschiebung“ der Zeiten sehr nah an die Figuren. Denn das kennt ja jeder: das Gestern ist im Heute stets präsent. Dazu fesseln Dialoge von oft gallebitterem Witz. Die sanfte Geschichte vom Werden und Wachsen einer außergewöhnlichen Freundschaft bekommt dadurch sehr klare Konturen, wirkt in ihrer historischen Dimension nie überfrachtet. Nicht ganz so wirkungsvoll, wie vermutlich erwartet, ist der Einsatz von jiddischen Songs, von denen „Bei mir bistu shein“ sicher der bekannteste ist. Bis auf das Finale, da Hannelore Elsner selbst singt, haben die Lieder, bei allem Können und allem Charisma von Sharon Brauner, lediglich einen schmückenden Charakter, bleiben Beiwerk, erzählen nichts über den Seelenzustand von Ruth. Gelegentlich stören sie sogar den eleganten Fluss der Erzählung, wirken im Vergleich zur vorherrschenden leisen Melancholie aufgesetzt. Aber auch hier: kein Kitsch, nie! Es drängt sich sogar der Verdacht auf, das Filmteam um Regisseur Janson habe geradezu verbissen versucht, der Gefahr von zu viel Gefühl unbedingt aus dem Weg zu gehen. So gibt es keine Szene, die eine wirklich große Erschütterung auslöst, einen als Zuschauer in die Untiefen schmerzlicher Gefühle stürzt. Das ist ein bisschen schade, fehlt es doch dadurch an dem, was ganz großes Kino ausmacht, an einer mitreißenden Überhöhung, die zu miterlebbarer Katharsis führt. Mehr Mut zur Radikalität wäre hier gut gewesen. Aber dennoch: man fühlt durchaus mit, lässt sich ein auf die Ereignisse um Ruth und Jonas und bangt mit ihnen, wenn auch verhalten, so doch mit Nachklang. Man nimmt viel zum Nachdenken über so Wichtiges wie Toleranz und menschliches Miteinander mit. Und, wie der Film, kann man nicht in bequeme Allerweltsweisheiten flüchten.

Peter Claus

Auf das Leben!, vonUwe Janson (Deutschland 2014)

Bilder: Camino Filmverleih