David Lynch lässt grüßen. Die dritte Regiearbeit der als Schauspielerin bekannt gewordenen Nicolette Krebitz entpuppt sich als düsteres Seelendrama, das stark an dessen beste Filme erinnert.
Nichts da von Fantasie- und Mutlosigkeit, wie sie deutschen Produktionen oft vorgeworfen wird. Krebitz geht mit bewundernswerter Konsequenz aufs Ganze.

Radikal in Inhalt und Form wird von einer Obsession erzählt. Berichtet Nicolette Krebitz damit auch von sich selbst? Darüber lässt sich nur spekulieren. Natürlich gibt das dem Film einen besonderen Reiz.

Die Hauptfigur heißt Ania (Lilith Stangenberg). Sie hat eine stupide Arbeit in einem Büro. Die Gesellschaft Anderer meidet sie weitgehend. Boris (Georg Friedrich), der Chef, ist ein Ekelpaket. Menschliche Wärme findet Ania kaum. Auch ihr Zuhause, eine kleine Wohnung in einer Plattenbau-Mietskaserne, wirkt kalt. Die Mittzwanzigerin vegetiert nicht, aber ein gutes Leben führt sie ebenso wenig. Nur die Besuche beim schwerkranken Großvater (Hermann Beyer) geben ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Bei einem dieser Besuche begegnet sie unterwegs einem Wolf. Und Ania wird sofort aus der Bahn geworfen. Die Frau und das Tier sehen sich tief in die Augen. Für sie ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie muss ihn wiedersehen. Zwanghaft wird sie zur Jägerin. Es gelingt ihr tatsächlich, das stattliche Tier einzufangen. Fortan hausen die Beiden in der kleinen Bleibe Anias zusammen. Die triste Wohnung wird zum Schauplatz einer Amour fou. Entkommen unmöglich.

Rasch ist klar: die gar nicht märchenhaft-wohlige „Rotkäppchen“-Variante reflektiert durchaus Aspekte der wohl jedem Menschen innewohnenden animalischen Lust an Sexualität. Das aber nur nebenbei. Nicolette Krebitz zielt vor allem darauf, die in der modernen Gesellschaft um sich greifende Sehnsucht nach eigener Freiheit zu spiegeln. Je länger der Film dauert, umso weniger Handlung wird offeriert. Schlüssel der Story ist ein Satz der Protagonistin: „Ich will nicht mehr so sein, wie ich war!“ Dafür gibt es keine psychologischen Erklärungen. Krebitz beleuchtet den Gemütszustand einer eigenwilligen Persönlichkeit, die sich nicht mehr darum schert, was die Umwelt von ihr hält, so lange sie nur sie selbst sein kann. Dass solche Lebenshaltung in unserer Gesellschaft, die unentwegt die Individualität preist, ihr jedoch viele Grenzen setzt, kaum möglich ist, spart Nicolette Krebitz nicht aus. Doch argumentiert sie nicht lauthals. Klug wird es dem Zuschauer überlassen, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Klug auch: in den Szenen um die körperlichen Bedürfnissen Anias im Banne ihres tierischen Partners baut Krebitz nicht aufs Grob-Schockierende. Die Frage, ob Traum oder Wirklichkeit, wenn sich Ania von dem Wolf oral befriedigen lässt, muss jeder im Kino für sich selbst beantworten.

Wesentlich für den starken Sog, den der Film hat, ist vieles, etwa die Kameraführung von Reinhold Vorschneider. Er zeigt geschickt, wie sich die Lebensräume für Ania durch ihren Ausbruch aus dem Gewohnten subjektiv mehr und mehr weiten. Plötzlich mutet etwa die Wohnung größer, weiter an. Bemerkenswert ist auch die Leistung des Schnitts. Bettina Böhler hat dafür gesorgt, dass das gemeinsame Agieren von Schauspielerin und Tier scheinbar grenzenlos möglich war. Die pointierte Musik der Band Terranova sorgt für ein unablässiges Schweben in sphärischer Ungewissheit.

Für Hautdarstellerin Lilith Stangenberg ist der Film schlichtweg ein Triumph. Die Schauspielerin, zuletzt mehrfach an der Berliner Volksbühne aufgefallen und in einer kleinen, wesentlichen Rolle des Spielfilms „Der Staat gegen Fritz Bauer“, hält die Balance von Wachen und Wahn mit somnambul anmutender Gelassenheit. Zudem hat sie mutig mit zwei echten Wölfen agiert. Denn es gab nicht ausreichend Geld, um das Tier glaubhaft am Computer zu animieren, etwa so, wie es Ang Lee bei „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“ tun konnte. Entscheidend: die Schauspielerin enthüllt das Fremde der Persönlichkeit Anias absolut glaubwürdig. Man staunt: Wie fremd einem ihr Verhalten auch ist, man begreift Ania dank Lilith Stangenbergs Präsenz. Das ist von einer Faszination, die deutsche Spielfilme nur sehr, sehr selten ausstrahlen.

Peter Claus

Wild, von Nicolette Krebitz   (Deutschland 2016)