Anfang, Mitte der 1990-er Jahre machte der Begriff von der „Nischengesellschaft“ die Runde. Günter Gaus hatte ihn geprägt, um damit die Lebenssituation eines Großteils der DDR-Bevölkerung zu Mauer-Zeiten zu charakterisieren. Jetzt, fast dreißig Jahre danach, haben wir hier den ersten Spielfilm aus deutschen Landen, dem es auf verblüffende Art und Weise gelingt, diese Gesellschaft, die Nischengesellschaft, zu spiegeln.

Vorlage ist der bereits vor zehn Jahren erschienene Roman „Adam und Evelyn“ von Ingo Schulze. Das Buch beeindruckt mit wunderbar hintersinnigem Humor, der auch im Film aufblitzt. Doch entscheidender ist der frappierende Mut von Regisseur Andreas Goldstein, der zusammen mit der Kamerafrau und Cutterin Jakobine Motz auch das Drehbuch geschrieben hat, stilistisch ganz eigene Wege zu gehen. In der Liebe zu den Figuren an die Filme von Andreas Dresen erinnernd, haben sich Goldstein und Motz für eine noch viel langsamere, gemächlichere Erzählweise entschieden als sie für Dresen typisch ist. Neben der tatsächlichen literarischen Vorlage kommen einem, so man sie kennt, die Bücher von Katja Lange-Müller in den Sinn. Was vielleicht gar kein Zufall ist. Schließlich ist auch sie, wie Goldstein, Kind einer Familie hoher DDR-Funktionäre, hat sie das Mauerland aus einer besonderen Perspektive erlebt. Goldstein, Jahrgang 1964, ist der Sohn von Klaus Gysi, der von 1966 bis 1973 Minister für Kultur war und von 1979 bis 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR. Goldsteins Halbbruder ist der bekannte Jurist, Politiker, Autor, Plauderer Gregor Gysi. Jahre hat es gedauert, bis Goldstein nun sein Debüt als Regisseur eines abendfüllenden Kino-Spielfilms realisieren konnte. Und das ist ihm fast makellos geraten!

Es gilt, eingefahrene Konsumgewohnheiten über Bord zu werfen. Gelingt einem das, hat man einen wahrlich ungewöhnlichen Kunstgenuss. Dabei ist die Story in ihrem Kern gar nicht so ungewöhnlich: Adam (Florian Teichtmeister) und Evelyn (Anne Kanis) sind ein Paar, dessen traute Zweisamkeit am Abgrund der Routine laviert. Es kommt zum Krach. Denn Adam, den alle nur so nennen, der aber eigentlich Lutz heißt, ist einer seiner Kundinnen – er arbeitet erfolgreich als Damenschneider in der sächsischen Provinz – für Evelyns Geschmack zu nahe gekommen. Sie macht sich drum nicht mit ihm, sondern mit einer Freundin (Christin Alexandrow) und deren Lover (Milian Zerzawy) in den Urlaub auf. Was Adam nicht ruhen lässt. Er reist ihr hinterher … Soweit, so austauschbar. Besonders wird die Geschichte dadurch, dass sie sich im Jahr 1989 ereignet. Adam & Evelyn sind in der DDR daheim. Das Ziel der Reise ist Ungarn, von wo aus grad unzählige DDR-ler Richtung Westen aufbrechen. Und auch die beiden werden diesen Weg einschlagen …

Ja, dies ist ein Wendefilm und ist doch keiner. Nichts da mit einer spektakulären Fluchtstory oder Stasi-Boshaftigkeit. Dies ist es ein Film, der vor allem wichtige Fragen um die Möglichkeiten und Grenzen des Miteinanders auszuloten versucht. Und das ohne vorschnelle Antworten. Wobei die Fragen nicht ausgestellt werden, die muss jeder im Zuschauerraum für sich selbst stellen. Es sind Fragen wie: Wann wird Zweisamkeit zur Last? Ist Liebe wirklich haltbar? Was heißt es, jemandem blind zu vertrauen? Natürlich ist es kein Zufall, dass die Protagonisten mit ihren Namen an das biblische Paar Adam und Eva erinnern. Mit einer geradezu unerschrockenen Gelassenheit stellt sich der Film dem ganz Großen. Dabei wird jegliche Hektik in der Gestaltung vermieden. Adam & Evelyn leben sich aus. Sie haben Spielräume, die sich zu weiten Lebensfeldern öffnen. Regie, Kamera, Drehbuch haben den Schauspielern exzellente Vorgaben gemacht. Die werden brillant genutzt. Das wirkt auch, weil man durchweg die Liebe der Macher zu den Figuren spürt, zu diesen ganz durchschnittlichen Menschen.

Die Zeitgeschichte wird wie nebenbei reflektiert, vor allem in Radionachrichten. Sehr geschickt. Die Realität ist präsent. Klar ist aber auch: Adam & Co. müssen sich nicht, wenn sie nicht wollen, drum kümmern. Nahezu alle Handelnden könnten sich auch ohne weiteres fern der weltpolitisch bedeutenden Entwicklungen bewegen. Natürlich werden sie davon beeinflusst, ob sie wollen oder nicht, selbst dann, wenn sie selbst es nicht einmal bemerken. Diese „Männer- und Frauengeschichte, sonst nichts“, wie Evelyn sie einmal gegenüber einem bundesdeutschen Grenzbeamten (in der satirischsten Szene des Films) nennt, diese Geschichte kommt wunderbarerweise ohne Täter-und Opfer-Klischees aus. Nur ein Mal wird’s platt: Adam liest Evelyn aus der Bibel die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies vor. Diese eine Szene ist überflüssig. Die braucht man als Zuschauer nicht. Ansonsten aber stimmt wirklich alles, jede Bewegung, jeder Ton.

Die sehr formbewusste, strenge, ganz auf Reduzierung orientierte Filmsprache zeigt immer alles und nichts. Hier passiert ganz Gewöhnliches: viele Menschen haben oft einfach nichts zu sagen, werden von Ereignissen überrollt, in Geschehnisse hineingezogen. Erklären kann das niemand, es ist nun mal so. Da sind denn auch keine „richtigen“ oder „falschen“ Deutungen möglich. Jede und jeder im Zuschauerraum kann seinen eigenen Film sehen. Was geschieht, geschieht, was hineingedeutet wird, wird hineingedeutet. Alles ist möglich, und alles hat seine Berechtigung. Und da dürften viele dahin kommen, dass sie selbst, egal wann und wo, in einer Nischengesellschaft leben. Sehr spannend!

Peter Claus

Adam & Evelyn, von Andreas Goldstein (Deutschland 2019)

Bild ganz oben: © Neue Visionen Filmverleih | Foto: Alexander Schaak