BÜCHERBRIEF AN BETTINA | 

liebe bettina,

ja, wir leben in interessanten zeiten: ich hätte gern auf diesen chinesischen fluch verzichtet. zumindest hätten sie nicht gar so interessant sein müssen. und der fluch ist auch keine erklärung für die exorbitante zunahme von dummheit: die ist über die jahrzehnte ganz anders hergestellt worden, jetzt wird halt, wie felix sagt, die ernte dieses herstellungsprozesses eingefahren. das schaurige daran ist, daß die, die angetreten sind, diese welt noch zu retten, in ihrer selbstgerechten verblödung ihrer zerstörung kräftig vorschub leisten.

da tut es gut, zwischendurch gedichte zu sich zu nehmen: auf ocean vuongs ‚zeit ist eine mutter‘ hab ich lang gewartet: es liest sich, als liefe man durch verzerrte kindergesänge, man kriegt blütenstaub in die augen, bis sie tränen, und knochensplitter ins herz. kugeln und worte und unendlich viel schnee: da stellen sich die wunden von ganz alleine ein. all das rote und tote, der bluthusten, das napalm, das maschinengewehrfeuer, das sterben und sterben und sterben, und das sterben aus absicht, umgebracht, erwürgt, erschossen, särge und leichen und ein gemeindefriedhof. und das totenkarussell dreht sich weiter: und schreckt nicht ab. denn vuong kann das, rüde und rotzig und was die gosse so hergibt, die schönheit hingefetzt, die worte mit wenigen wendungen wie ein ganzes bündel philosophie hingeblättert, mit denen er seine unverschämtheiten bezahlt. und die, die ihm angetan wurden, gleich mit. die gnade, die er sucht, immer wieder: ein ruhekissen, der verzweiflung ins gesicht gedrückt, als könne er sie damit ersticken. die bosheiten, die er wie reißgel streut, die ironie. nein, nicht ironie: hohn ist die ihm auferlegte pflicht, auch mal von der traurigkeit abzusehen, von den liebeserklärungen an männer und schmerz, von der mitternacht, die „dort, wo ich herkomme“, nur eine sekunde dauert, vom stakkato der bitterkeit. ich neige bei gedichten dazu, die worte wichtig zu nehmen und wie sie geschrieben sind, wahrscheinlich zu recht: doch daß in einem seiner gedichte bis auf den namen peter alles kleingeschrieben ist: und nur ein einziges wort, ufer, groß: hat das tatsächlich was zu heißen. oder ist denen vom verlag beim setzen des übersetzten bloß ein fehler unterlaufen. ach, zum kuckuck (oder zum henker oder sonstwem) und zum wiederholten mal: gedichte sind keine rechenoperationen (allerhöchstens die miserablen: und das sind eben keine), und nein, sie müssen „keinen sinn ergeben um / wahr zu sein“: es reicht, wenn man sieht, wie sich der regen ein anderes gesicht aufsetzt und asche speit: auch wenn davon gar nicht die rede ist.

ich hab übrigens (kleine zwischenbemerkung von wegen interessanter zeiten) für das buch von kathrinchen ein paar zeilen in ihren aufzeichnungen gefunden und übersetzt, in denen sie sich über die schönheit der russischen sprache ausläßt und wie sie den klang davon liebt. nee, ist gar keine zwischenbemerkung: hat mit sorokins erzählungen zu tun, ein wunder, daß sie den noch nicht eingestampft haben, wo der mit vornamen auch noch vladimir heißt. daß er an russlands regime kein gutes haar läßt, hat ihn möglicherweise verschont, obwohl das, folgt man dem gerade von den massenmedien hysterisch zum helden hochgejubelten blau-gelben staatsschauspieler, nichts zur sache tun dürfte: der fordert vom westen unverfroren, von „unnötigen differenzierungen“ abzusehen, da es in dieser situation nur schwarz und weiß gibt, gut und böse. ach ja, und natürlich verkappte hitlerzitate von blau-gelben autoren („die ukraine wird siegen oder untergehen“). aber da ironie ja eh kaum noch einer versteht, sind diese bizarren, saukomischen, gewalttätigen, märchenhaften parabeln von sorokin wahrscheinlich perlen vor die säue: geschichten, in denen fast immer sommer ist, die gesellschaft aus den fugen und der staat ein „löchriger käse“, in denen fehlendes toilettenpapier zu einer wahrhaft mörderischen schlacht um das sauberste poloch und zu einem balkonsturz führt, in denen es frauen in zwölf ehejahren nicht gelingt, ihrem mann beizubringen, wie man ordentlich küßt, in denen kleine mistkäfer anstelle von rosinen im quark stecken, in denen das einzig echte in einem land voller „als ob“ atomsprengköpfe sind: und die verwandeln sich eines tages in zuckerhüte. mit anderen worten: geschichten, in denen immer etwas auftaucht, bei dessen erscheinen den menschen mulmig wird. und in denen die sätze dahergeflogen kommen wie von einem kind geworfene bälle.

sorokins ‚rote pyramide‘ (die ein rotes rauschen ausstrahlt, „damit der mensch aufhört, mensch zu sein“) das eine, ‚am roten strand‘ ein völlig anderes: keine berührungspunkte (außer, man läßt buchstaben gelten), milchstraßen entfernt. verfaßt von dem, ders gern knapp hat, jan costin wagner, ders gern hell hat: sonne ist eins der worte, auf die er setzt, in jedem seiner bücher, plakativer kontrast zu der dunkelheit des mißbrauchs, von dem er auch kaum einmal läßt (nicht mal seinen ermittler ben nimmt er aus: tja, leute, es gibt eben nicht nur schwarz und weiß), jedenfalls: sonne. sonne, die auf seite 28 ein café „flutet“, auf seite 29 „flutet“ sie einen raum, und dann flutet sie weitere sechs, sieben mal alles mögliche, oder sie „bescheint“ vorplätze, parkplätze, silberne wagen, flächen, vororte, weiße häuser, flure, die sonne, die ein-und ausgeatmet wird, deren licht blendet, der man das gesicht zuwendet, der man das gesicht entgegenstreckt, unter der man steht, in der man steht, unter der ein haus steht, unter der ein haus ruht, unter deren wucht der dienstwagen zu schmelzen scheint. die sonne knapp fünfzigmal, und wenn nicht die sonne, dann der sommer: der echt ist, der hell ist, der heiß ist, der am verblassen ist, der nie endet, grau, flirrend, verwaschen, vergilbt, den man genießt, den man durchquert (gleich zweimal), der sommer, nach dem der kuchen auf einer trauerfeier schmeckt. und fast so allgegenwärtig ist wie die sonne. und unentwegt „versanden“ die gedanken oder das lächeln. einmal sagt einer, „eine variable zu verändern, bedeutet, das resultat zu verändern“. sollte man meinen: diese endlos kurzen sätze, oft nur ein wort vor dem punkt, sind genauso gut in einer ganz anderen reihenfolge denkbar: in ihrer gleichförmigkeit laden die praktischen einheiten regelrecht dazu ein, hin- und hergeschoben zu werden, neu angeordnet: woran liegt es, daß der roman danach, anders als in dem zitierten satz, dennoch kein anderer wäre.

vor mehr als einem halben jahr wollte ich eigentlich noch den dicken band mit den gesammelten erzählungen von der atwood für dich besprechen (die erste darin hat sie mit 16, die letzte mit 81 jahren geschrieben), dann schien ein anderes buch dringlicher (welches?), und jetzt hab ich meine mit notizen überkrauteten zettel (die rückseiten von verbesserten und nach gescheiterten verbesserungsversuchen verworfenen gedichte, papier ist rar und wird rarer) gefunden und kann kaum entziffern, was ich sagen wollte, damals. einen elfersatz hab ich markiert für meine sammlung („mit elf habe ich einen sommer lang viel gestrickt“) und für die ’spielworte‘: engel, baum und bleistift. und sonst steht da was über die anziehungskraft männlicher dummheit. erinnerungen an kindheit und kleider. die beendigung einer affäre im moor (erst hab ich aus meiner verfilzten schrift fälschlicherweise die worte herausgeklaubt: beerdigung einer äffin im moor). atwoods einschätzung, daß menschliche neugier ein grund für den weltuntergang ist. leuchtend blaue hände, die unter dicken lederhandschuhen zum vorschein kommen. frauen, die sich etwas vormachen, das dann risse kriegt. dinge, die man erst sieht, wenn man vergißt, wie sie heißen. herzen, die so unwirklich aussehen, „wie ein beutel gelantine“. dunkle mutmaßungen, subtile bedrohungen, die manchmal nichts anderes sind als die unzufriedenheit mit dem status quo, der an langweile grenzenden sicherheit (ein schicksal, schlimmer als der tod: „sofaschoner auf den sesseln“). eine sammlung verschiedenartiger knoten an der wand. die erkenntnis, daß man, wenn man noch zu kauen in der lage ist, weiß, daß man lebt. ein fenster, das mehr ist als ein fenster: weil man sowohl hinein- als auch hinaussehen kann. eine weizenpflanzende henne, frauen, die sich der liebe wegen dumm stellen, das tragen eines sauberen schlüpfers für den fall eines unfalls, experimente mit fledermäusen im zweiten weltkrieg, berge von zu bügelnden hemden als metapher für unbefriedigenden sex, das ausziehen der schuhe, bevor man sich vor einen zug wirft. und atwoods satz: „die ehefrauen erklärten, ein tag hätte nicht mehr als vierundzwanzig stunden, und die männer, die sich in jenem jahrhundert noch ihrer rationlität rühmten, mußten zugeben, daß das so war.“ humor hat sie, die frau.

sieh du zu, daß du, auch in diesen interessanten zeiten, deinen nicht verlierst. und sei umarmt

ingrid

 

© ingrid mylo

alle Cover © Verlag

Bild ganz oben: Cover (Ausschnitt) Ocean Vuong: Zeit ist eine Mutter | © Hanser

 

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Ocean Vuong: Zeit ist eine Mutter

Gedichte aus dem Amerikanischen von Anne-Kristin Mittag

Hanser 2022 | 107 S. | € 20,-

 

 

 

 

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Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide

Erzählungen aus dem Russischen von A. Tretner & D. Trottenberg

Kiepenheuer & Witsch 2022 | 191 S. | € 22,-

 

 

 

 

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Jan Costin Wagner: Am roten Strand

Galiani 2022 | 300 S. | € 22,-

 

 

 

 

 

 

 

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Margaret Atwood: Die Kunst des Kochens und Auftragens

Gesammelte Erzählungen aus dem Kanadischen von M. Baark,

C. Franke, M. Friedrich, A. Kamp, H. Pfetsch, B. Walitzek

Berlin Verlag 2021 | 349 S. | € 30,-

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