Die Zensoren – Geburtshelfer oder Verhinderer?

Robert Darnton untersucht anhand von drei anregenden Beispielen aus der Geschichte die Arbeitsweisen von Literaturzensur, bleibt aber die Antwort nach der Wirksamkeit von Kontrollmechanismen in der Gegenwart schuldig.

Dieses Buch hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte. „Die Zensoren“ müssen für ihren Autor, den mittlerweile 77jährigen Harvard-Historiker Robert Darnton, zu einer Lebensaufgabe geworden sein. Als er im Juni 1990 im damals noch existierenden DDR-Kulturministerium in der Ostberliner Clara-Zetkin-Straße zwei leibhaftigen Literatur-Zensoren gegenübersaß, verspürte er ein leises Glückgefühl. Nach eigenem Bekunden hatte er sich damals schon mit dem Thema befasst. Seine Untersuchungsgegenstände lagen bis dato aber nur in der Vormoderne und/oder in fernen Kontinenten. Statt des mühseligen Gangs in staubige Archive bot sich nun unverhofft die Chance, zwei gerade arbeitslos gewordene Kulturbürokraten über ihre Arbeitsmethoden zu befragen und ihre – gewiss parteiische – Sicht auf die Zensurpraktiken in der DDR zu erfahren.

Bis zur Veröffentlichung des Buchs sollte noch ein Vierteljahrhundert vergehen, was gewiss mit der Unübersichtlichkeit des Begriffs Zensur zu tun hat. Was ist Zensur? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Darnton erwähnt in seinem Vorwort eine Befragung seiner Studenten, denen zum Thema Zensur alles Mögliche eingefallen ist. Von der Schulbenotung bis zum Schweigen aus Höflichkeit reicht die Skala der Antworten. Man sieht, die poststrukturalistische Entgrenzung der Begriffe hat ihre Wirkung getan. Längst wird unter staatlicher Zensur nicht mehr allein der Kampf gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung verstanden. Alle möglichen Zwänge, die den Einzelnen daran hindern, mitzuteilen was ihm auf der Seele liegt, und sei es eine rohe Beschimpfung, vor der er dann doch zurückschreckt, weil er gesellschaftliche Ablehnung fürchtet, spielen herein. Darnton versucht diesem Dilemma zu entgehen, indem er seine Tiefenbohrungen strikt auf das Feld der Literatur, Abteilung Belletristik, beschränkt und auf die Macht des Staates, zu bestimmen, was gedruckt und verbreitet werden kann und was nicht. Dabei ignoriert er den iconic turn, die neue Macht der Bildermedien, er beschränkt sich auf die klassische Gutenberg-Galaxis. Aber dafür zieht er auch andere Einflüsse – wie etwa die Selbstzensur von Schriftstellern – in Betracht.

Darnton setzt an drei Stellen und in drei Epochen mit seinen Detailuntersuchungen an. Er begibt sich ins französische Ancien Régime des 18. Jahrhunderts, nach Bengalen in der Hochzeit des britischen Imperialismus im zweiten Teil des 19. Jahrhunderts und wieder ein Jahrhundert später ins realsozialistische Ostdeutschland. So unterschiedlich die Vorzeichen und die Bedingungen auch waren, so sehr ähneln sich doch die Ergebnisse. Mal um Mal werden die Geschichten von historischen Verlierern erzählt. So verbissen und intelligent der Kampf der Zensoren gegen die – in ihren Augen – steigenden Fluten verbotener Gedanken und anstößiger Ideen auch war, in letzter Konsequenz standen sie auf verlorenem Posten. Die absolutistische Bourbonen-Herrschaft wurde von der Großen Revolution weggefegt, deren Ursprünge in Ideen und Büchern lagen. Auch die Interpretationsschlachten um eine gültige hermeneutische Auslegung von Sanskrittexten vor britisch-indischen Gerichtsschranken erwiesen sich als untaugliches Mittel, um den hinduistischen Nationalismus zu ersticken. Und ebenso ist die Zuckerbrot- und Peitschen-Politik, mit der die Staats- und Parteiinstanzen der DDR versuchten, unbotmäßige Autoren auf Linie zu bringen, fehlgeschlagen. Obwohl die Literatur ihren Jahresplan übererfüllte und „Republikfeindliches“ oft ungedruckt blieb, implodierte ein ganzes Wirtschaftssystem und zog den Zensoren den Boden unter den Füßen weg. Fast möchte man Mitleid bekommen mit den Zensoren …

Da tut es gut, sich mit Darnton zu erinnern, dass die Zensur gegen Schriftsteller häufig genug mit der Vernichtung von Lebensentwürfen einherging. Mlle. Bonafon, die junge Kammerzofe am Hof in Versailles, verschwand für 13 Jahre hinter Klostermauern, weil sie einen frivolen Schlüsselroman namens „Tanastès“ verfasst hatte. Makunda Mal Das, der Anführer einer indischen Theatergruppe, erhielt drei Jahre strenge Gefängnishaft, weil er vor Bauern anspielungsreiche Lieder vorgetragen hatte. Und Walter Janka musste in der DDR fünf Jahre Isolationshaft absitzen, nur weil er der Verleger eines in Verschiss gefallenen ungarischen Philosophen war und sich partout nicht von jenem Georg Lukács distanzieren wollte.

Andererseits – auch dafür öffnet das Buch die Augen – war Zensur nicht gleich Zensur. Im vorrevolutionären Frankreich adelte der censeur royal mit seinem Gutachten einen Text. Die Expertise war so positiv, dass sie wie ein moderner Klappentext dem Buch vorangestellt werden konnte. Das Buch trug ein königliches Gütesiegel in Gestalt der Druckgenehmigung. Die Kehrseite der Medaille: Subversive Literatur wurde erst gar nicht eingereicht, erschien im liberalen Ausland oder im Untergrund. Hier setzte die Drecksarbeit der Buchpolizei ein, die Jagd auf Autoren und Zwischenhändler machte und illegale Buchauflagen aus dem Verkehr ziehen sollte. Diese Art von inquisitorischer Nachzensur wurde auch der Kammerzofe Bonafon zum Verhängnis.

Das krasse Gegenteil zur Zensurbehörde der Direction de la librairie war 200 Jahre später der Kontrollapparat für Literatur in der DDR. Wo das Ancien Régime noch mit einer „Bürokratie ohne Bürokraten“ ausgekommen war und der Leiter Lamoignon de Malesherbes in seinem Stadthaus mit seinem Privatsekretär alle organisatorische Arbeit allein erledigte, suchte das „Leseland DDR“ die Kultur und ganz besonders die schöngeistige Literatur mit einem schier überbordenden System unter Kontrolle zu halten. Die klassischen Zensoren waren in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) angesiedelt. Die Kulturministerialbeamten sahen sich ihrerseits unter Druck gesetzt von den Hardlinern in der ZK-Abteilung Ideologie des Kurt Hager. Zensur und Selbstzensur setzten bereits auf ganz anderen, niederen Ebenen ein. Bei den Autoren selbst, ihren Lektoren und den Verlagsleitern, die bei Texten, die auch nur irgendwie vom Pfad des sozialistischen Realismus abwichen, einen Eiertanz vollführten. Was konnte der Zensur und ihren Aufpassern zugemutet werden und wie sollte schwer verdauliche Kost schmackhaft gemacht werden? Beide Seiten hatten für den Fall von Renitenz oder Einspruch ihre Drohmittel. Auf der einen Seite wurden Druckverbote und Verbandsausschlüsse ausgesprochen, prominente Autoren winkten umgekehrt mit einer Veröffentlichung in Westverlagen, notfalls auch ohne Genehmigung. In dem Fall drohte der DDR mal wieder schlechte PR.

Zwischen einst und gestern gibt es aber auch auffällige Parallelen. Weil Zensur nicht mit leichter Hand ausgesprochen wurde, sondern das Ergebnis harter Arbeit war, entwickelte sich zwischen Autor und Kontrolleur häufig ein Vertrauensverhältnis, das nach Darnton „bis an die Grenze zur Koproduktion reichte“. Das gilt für das absolutistische Frankreich wie für die sozialistische DDR, wo zum Beispiel ein Verlagsleiter in langer Kleinarbeit mit dem Schriftsteller Volker Braun über dessen „Hinze-Kunze“-Roman brütete. Zudem wurden namhafte Literaturwissenschaftler und Autorenkollegen aufgeboten, nicht etwa – um einem Stück Literatur die Eigenheit auszutreiben, wohl aber um die Chance auf eine Drucklegung zu erhöhen. Zensoren und Schriftsteller suchten als Verbündete gemeinsam nach Lösungen und es spricht Bände, dass sich Autor Braun niemals von der gemeinsam überarbeiteten Fassung distanziert hat. Der Zensor – Geburtshelfer oder doch nur Verhinderer von Meisterwerken?

Der französische Absolutismus ist Vergangenheit, die britische Kolonialherrschaft und ihre Rechtsprechung in Indien ist am Ende, selbst die DDR ist schon Geschichte. Alle drei Formen von Zensur sind passé. Was zu einer Frage führt, die das Buch gar nicht weiter anspricht. Wie sieht eigentlich die Zensur in den „offenen Gesellschaften“ aus, worunter der Amerikaner Darnton die Länder der westlichen Zivilisation versteht? Der Autor zitiert an einer Stelle Christa Wolf in einem Interview aus dem Jahr 1984: „Ich kenne kein Land der Welt, in dem es nicht die ideologische Zensur oder die Zensur des Marktes gibt.“ Im Zeitalter der digitalen Revolution und der boomenden Selbstverleger von einer „Zensur des Marktes“ zu sprechen, klingt etwas ranzig, birgt aber nach wie vor einen wahren Kern. Die Entgrenzung der Mittel und Möglichkeiten diktiert den Alltag und gleichzeitig herrscht eine radikale Selektion, auch auf dem Buchmarkt. Was keine Clicks und keine Empfehlungen auf sich zieht, das findet zwar statt, aber nur virtuell, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist eine neue Form der Zensur, die sich freilich auf dem Markt der Aufmerksamkeiten abspielt.

Michael André

 

Robert Darnton:

Die Zensoren – Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat.

Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR.

Aus dem Englischen von Enrico Heinemann

Siedler Verlag 2016

368 Seiten

€ 19,99 [D]

ISBN: 978-3-641-15678-7