Gert Ueding erinnert sich an seine Tübinger Jahre an der Seite von Ernst Bloch: Aus dem „Ketzer des Marxismus“ wird der letzte Philosophen seiner Art

 

Viele Etiketten kleben an Ernst Bloch. Der Sozialphilosoph Oskar Negt bezeichnete ihn in seiner Grabrede 1977 als „produktivsten Ketzer des Marxismus“, für den Leipziger Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz war der Hochschullehrer erst der „Trotzki der Theorie“, später verglich er Blochs Dissident in der DDR mit Luthers Konflikt mit der Römischen Kirche. Für Arno Münster, glühender Adept aus Tübinger Tagen und ebenfalls Autor einer Bloch-Biographie, war sein Meister der „Philosoph des aufrechten Gangs“ und des „Noch-Nicht-Seins“. Jetzt liegt ein neuer Erinnerungsband vor und die politische Dimension in der Einordnung Blochs ist völlig getilgt. Bei Gert Unding heißt es nur noch: „Ernst Bloch war der letzte Philosoph, der originales Denken und Sprachgewalt, universale Bildung und persönliche Autorität ineins verkörperte.“ Von Marxismus und Sozialismus ist keine Rede mehr. Stattdessen wird das Bild eines lebenslänglichen Exulanten gezeichnet, im wortwörtlichen wie übertragenen Sinn: Ein Mann, der keiner akademischen Denkschule und keiner einheitlichen Kultur verpflichtet sei. Ein Solitär, aus der Zeit gefallen. Gert Unding, Germanist und Nachfolger von Walter Jens an der Universität Tübingen, mittlerweile selbst emeritiert, schreibt seine Erinnerungen an Ernst Bloch in Verehrung für einen Mann, der sein Großvater hätte sein können, und den er ein Jahrzehnt lang aus nächster Nähe erlebte. Zunächst als junger Student, der seine Bude im Souterrain jenes Hauses hatte, in dem auch Ernst und Karola Bloch wohnten. Dann als Besucher der Lehrveranstaltungen Blochs, später auch seines Kolloquiums. Schließlich der Aufstieg zum wissenschaftlichen Mitarbeiter und Assistenten Blochs. Nicht gezählt die vielen privaten Kontakte mit Bloch, der sich oft zu später Uhrzeit in Filzpantoffeln bei seinem Studenten einfand, die unvermeidliche Pfeife ansteckte und dann „in Schlieren von Rauchschwaden“ eine Privatissime-Lehrstunde begann. Dieses Erlebnis muss so prägend gewesen sein, dass Unding noch heute mit Verve darüber schreibt. Der private Ernst Bloch war so charismatisch wie der öffentliche. Oder wie Blochs Kollege Hans Mayer es ausdrückte: „Die Erzählform ist bereits der Inhalt.“

Die Beschreibung Blochs vollzieht sich bei Unding nicht in öder, chronologischer Weise, sondern in sieben Kapiteln. In denen nähert sich der Autor seinem Helden wie in konzentrischen Kreisen. Bloch, der pointengewitzte Erzähler, der sprachgewaltige Redner im Hörsaal wie bei öffentlichen Veranstaltungen; der Hochschullehrer mit bleibenden Erfahrungen im Exil wie in beiden Deutschlands; der Autor, der auf der Schlussetappe in Tübingen die „Ernte seines philosophischen Lebens“ einbringt; der erblindende Philosoph und eine zusehends komplizierte Beziehung zu einer viel jüngeren Frau, der er sich zu lebenslänglichem Dank verpflichtet fühlt. Schließlich der Mann, der ein „Genie für Freundschaften“ und der zeitlebens ein Spurensucher war. Nicht nur in den Steinbrüchen der Geistesgeschichte, sondern auch ganz profan als Liebhaber Karl Mays und klassischer Kriminalromane. Die Nähe zwischen Professor und Student wird ein halbes Jahrhundert nach dieser ersten Begegnung noch deutlich und ein wenig Neid kommt auf, wenn man diese Intimität mit der unendlichen Distanz vergleicht, die zwischen beiden Seiten im Zeitalter der anonymen Massenuniversität eingekehrt ist.

Die literarischen Qualitäten von „Wo noch niemand war“ versöhnen zu Teilen damit, dass der politische Bloch und seine Bedeutung für die 68er-Bewegung bei Unding unterbelichtet bleibt. Freunde und Schüler, wie die eingangs erwähnten Negt, Zwerenz und Münster, kommen nicht vor. Dieses Kapitel ist Ueding wohl unbehaglich. Er sucht es mit einem dürren Satz abzuhandeln: „So kam es, dass zwischen ihm und der Studentenbewegung, trotz aller Sympathie, kein enger Schulterschluss zustande kam.“ Und die Unterschriften Blochs bei politischen Solidaritätsadressen? Nicht immer Blochs Werk, sondern oft der Beitrag Karolas, insinuiert Unding.

Tatsächlich war es doch so, dass Teile von 68 sich – frustriert von der Ausweglosigkeit der negativen Dialektik und der Schuldbeladenheit der Frankfurter Schule – von Adorno und Horkheimer entfremdeten. Stattdessen entdeckten sie andere vergessene deutsche Denker der Exilzeit. Dazu zählte auch Bloch mitsamt seiner Hoffnungsphilosophie. Neidvoll sprach Theodor W. Adorno von der „großen Blechmusik“, die höchste Höhen erreichte, als ein Feuilletonist der damals einflussreichen Frankfurter Rundschau gelehrt von „docta spes“ sprach und in Blechschere Manier in einem Autorenwerk den ästhetischen Vor-Schein von noch nicht Vorhandenem entdeckte. Aber das ist lange her. Die Rundschau ist nicht mehr das, was sie einmal war und Ernst Bloch ist aus dem wissenschaftlichen Diskurs weitgehend verschwunden.

Also mit aller Vorsicht gefragt: – In einer Zeit, da Dieter Pfaff als Fernsehkommissar Bloch vielen Menschen bekannter ist als der gleichnamige Philosoph – worin könnte die Aktualität Ernst Blochs bestehen? Für den Publizisten Arno Widmen ist diese Denkrichtung tot, mausetot: „Blochs Philosophie ist so etwas wie ein Goldglanz über den Leichenfeldern des zwanzigsten Jahrhunderts.“ An die Stelle der Verzweiflung über das Dritte Reich trat eine vage eschatologische Verheißung namens „Prinzip Hoffnung“. Das Wort aber ist mittlerweile furchtbar abgedroschen und als utopische Möglichkeitskategorie desavouiert. Jeder abstiegsbedrohte Fußballverein schreibt sich diese Parole auf die Fahnen.

Gert Ueding bleibt in seinem Buch bei dieser Frage weitgehend stumm. Was in einem Interview mit der „Jungen Welt“ äußerte, macht die Sache nicht viel besser. Ueding ist sich „sicher, dass wir vor einer Bloch-Renaissance stehen“. Wishful thinking? Dann schiebt er als Begründung nach: „Die Zentralfragen seiner Philosophie: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“, sind auch heute nicht überflüssig geworden.“ Werner Höfer und der Internationale Frühschoppen seligen Angedenkens hätten die gleichen tiefschürfenden Fragen nicht besser stellen können – und zu einem Glas Wein gegriffen.

Michael André

 

 

Cover Klöpfer & MeyerGert Ueding: Wo noch niemand war – Erinnerungen an Ernst Bloch

216 Seiten und 24 s/w Abbildungen, geb. mit Schutzumschlag

Verlag Klöpfer & Meyer

 

Tübingen 2016, ISBN 978-3-86351-415-0

€ [D] 22,– / [A] 22,70 auch als ebook verfügbar

 

 

Er schrieb sein „Prinzip Hoffnung“, weil er es musste. Er hätte nicht weiterleben können ohne die Verheißung eines welthistorischen Happyends. Seine Arbeit gab seinem Leben einen Sinn, und das konnte sie in seinen Augen nur, weil sie allem und allen einen Sinn gab. Das war im Kern totalitär.Aber wie sollte man in Zeiten, da das Morden total wurde, nicht totalitär werden beim Kampf gegen es? Brecht argumentierte so, Bloch und viele andere. Aber es gab andere Zeitgenossen, die dieser Art Dialektik sich zu entziehen verstanden.

Arno Widmann über Arno Münsters Bloch-Biographie, BZ 2004