Das Kino, der Ort aller Sehnsucht

Locarno, 12. August 2010:

Locarno in Regen und Gewitter – und das bei brütender Hitze. Schön ist anders. Da ist das Kino tatsächlich der Ort aller Sehnsucht. Auch wenn die Klimaanlagen die Häufigkeit der Erkältungskrankheiten innerhalb der Festivalgemeinde in den letzten Tagen hat ansteigen lassen.

Donnerstagabend, kurz vor Mitternacht, darauf freuen sich schon alle, soll auf der Piazza Lubitschs „Sein oder Nichtsein“ laufen.  Diesen Film unterm Sternenzelt – das hat was. Die Pilger rasen geradezu zur Madonna del Sasso, der Schutzpatronin des Ortes, um den Regen wenigstens dafür zu einer Pause zu bewegen. Ci vedremo…

Überhaupt: Lubitsch. Schwärm, schwärm, schwärm. „Shop around the Corner“, die Vorlage für die seichte Tom-Hanks-Meg-Ryan-Schnulze „You’ve got e-mail“ – ein Genuss. Der junge James Stewart als tollpatschiger Verkäufer in Budapest. Ein Märchen aus den 1930-er Jahren, den Friedenszeiten, wie die Altvorderen später seufzen sollten. Was für ein geschliffener Dialogwitz! Was für eine knisternde Erotik! Im vollbesetzten Festivalkino, dem „Ex-Rex“, wo die Lubitsch-Retro läuft, gab’s wieder enormen Beifall vom überwiegend jungen, ja, jugendlichen Publikum.

Die Lubitsch-Retro ist ein erholsames Kontrastprogramm zu Wettbewerbs- und Piazza-Programm, wo es inhaltlich ja doch eher gewichtig zugeht.  Wobei: Auch da gibt’s – hatten wir ja zu Beginn des Festivals schon mit „LA. Zombie“ – Verirrungen. Die jüngste kommt aus Brasilien: „Luz nas trevas – A volta do bandido da Luz Vermelha“ (Licht im Dunkel – Die Rückkehr des Roten Banditen). Das Regie-Duo Icaro C. Martins und Helena Ignez benutzen eine brasilianische Kinolegende der 1960-er Jahre, die Story vom „Roten Bandit“ (Luz Vermelha) als Folie für eine schnöselige Gangsterstory. Die in Stichworten: Sohnemann tritt in die Fußstapfen vom Vater, der im Knast schmort, wo er fälschlich als „Held“ gilt, denn in Wahrheit hat er nie ein Verbrechen begangen, und auch der Filius bringt’s nicht weit in dem schmutzigen Geschäft. Das könnte ja ganz neckisch sein. Nur, ach: Martins & Ignez haben nicht wirklich etwas zu erzählen und ertränken dieses Nichts in formaler Spielastik. Archivmaterial, Comicstripbildchen, Spielszenen, das alles neongrell gemixt – fertig ist ein ziemlich unverdaulicher cineastischer Wurstsalat. Völlig überflüssig!

Von ganz, ganz anderem Kaliber ist die türkisch-griechische Koproduktion „Saç“ (Haare). Regisseur Tayfun Pirselimoglu verblüfft mit einer fast statischen Erzählweise. Die Kamera ist fast nie in Bewegung. Halbtotalen dominieren. So entsteht eine sehr an Theater erinnernde Atmosphäre. Geredet wird so gut wie gar nichts. Aber es wird in diesen strengen Tableaus viel erzählt über den Alltag in Istanbul, insbesondere das Miteinander von Frauen und Männern. Im Zentrum der kargen Geschichte stehen eine Putzfrau und ein Perückenmacher. Wie die Beiden sich kennenlernen, wie sie einander näher kommen, welch drastisches Schicksal sie schließlich zugleich eint und trennt, das ist Anlass für ungemein subtile Bilder aus einem Land, das hart darum ringt, Tradition und Moderne miteinander zu verbinden. Und: das ist ein Film, der dem Kino das Schönste schenkt, was man ihm schenken kann: Geheimnis. Ganz sicher auch dies: ein Leoparden-Kandidat.

Saç (Regie: Tayfu Pirselimoglu, Türkei/Griechenland 2010, © Festival del film locarno 2010)