Kurz vor Toresschluss in Locarno

Wer kriegt ihn, den Goldenen Leoparden, wer die anderen Locarno-Preise? – Die Frage, klar, zirkuliert seit Tagen in der Festivalgemeinde, eifrige haben längst vorausgesagt, wer heute Abend auf der Piazza Grande mit strahlendem Siegerlächeln dastehen wird.
Ich bin mir nicht sehr sicher. Jury-Präsident Paulo Branco sowie die zwei Frauen und zwei Männer an seiner Seite sind nicht berechenbar. Branco, der portugiesische Produzent, der schon Wenders, Herzog, Téchine, Skolimowski, Tanner, Assayas und vielen anderen Regisseuren von Format eine wichtige Stütze war (und ist) liebt augenscheinlich das anspruchsvolle Autorenkino, hat aber ganz bestimmt auch nichts gegen gute Unterhaltung.
Die kommt in der Regel beim großen Publikum besonders gut an. Als erste also eine kleine Spekulation in Sachen Publikumspreis. Hier stehen die Filme zu Auswahl, die außerhalb des Wettbewerbs auf der Piazza Grande zu sehen waren, in der Regel von etwa achttausend Zuschauern, an manchen Abenden (wegen des Regens) etwas weniger, an manchen sogar mehr. Gut möglich, dass „Coybosy & Aliens“ das Rennen macht. Die Star-Power von Harrison Ford und Daniel Craig, die auf der Piazza Grande mit ihren geradezu unwirklich blauen Augen um die Wette um die Gunst des Publikums buhlten, könnte das Votum beeinflusst haben. Der Beifall war groß. Groß war er aber auch für Aki Kaurismäkis zauberschönes Märchen „Le Havre“. Entscheiden sich die Zuschauer dafür, ginge immerhin ein Drittel des Preises auch nach Deutschland, denn es handelt sich um eine finnisch-französisch-deutsche Gemeinschaftsproduktion. Gar ein halber Preis käm’ zu uns, wenn „Hell“, das auch viel beklatschte Endzeitdrama, das Rennen machte. Das ist eine Ko-Produktion Deutschland-Schweiz. Auch gut im Rennen liegt „4 Tage im Mai“, das Anti-Kriegs-Drama, das Regisseur Achim von Borries als deutsch-russisch-ukrainische Gemeinschaftsproduktion realisiert hat. Da deutsche Produzenten an immerhin sechs der achtzehn Filme des Piazza-Programms finanziell beteiligt waren, stehen die Chancen für einen Teil-Publikumspreis Richtung Deutschland also zumindest rein rechnerisch gut.
Im Hauptwettbewerb um den Goldenen Leoparden, den „Concorso Internazionale“, ist dem nicht so. Lediglich drei der zwanzig Beiträge wurde mit deutscher Beteiligung realisiert. Und allen drei Beiträgen können wohl allenfalls Außenseiterchancen eingeräumt werden: „Un amour du jeunesse“ wegen der Poesie und wegen Hauptdarsteller Sebastian Urzendwosky, „The Loneliest Planet“ auf Grund des Mutes, fast ausschließlich ohne Dialoge, dafür über archaische Bilder zu erzählen, „Tanathur (Last Days in Jerusalem)“ für die beiläufigen Beobachtungen des Daseins von Palästinensern in Israel anhand einer psychologisch aufregenden Ehekrisen-Story. Setzt die Jury und Paulo Branco vor allem auf Gesellschaftskritik, dann sollte das japanisch-portugiesisch-thailändische Jugenddrama „Saudade“ oder der israelische Film „Hashoter (Policemen)“ den Goldenen Leoparden bekommen. Setzt die Jury auf Gefühl, haben „Terri“ und „Another Earth“ (beide USA) sowie „Din dragoste cu cele mai bune intentii“ („Beste Absichten“) aus Rumänien/Ungarn große Chancen. Soll der Mut zu ungewöhnlichen künstlerischen Mitteln belohnt werden, die den Blick auf die Wirklichkeit nicht verstellen, liegen „Crulic“ (Rumänien/Polen) und „El año del tigre“ (Chile) vorn. Vielleicht setzt die Jury aber auch auf die Kraft des nahezu direkten Beobachtens und zeichnet den einzigen in der internationalen Konkurrenz gezeigten Dokumentarfilm aus: „Vol spécial“ („Spezialflug“). Die Auswahl also ist riesig. Und das, egal wie die Jury votiert, ist das Entscheidende. Denn das sagt eindeutig etwas über die gute Qualität des diesjährigen Festivals von Locarno aus.

© Peter Claus

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