Realität im Visier

Die Realität ist ins Festival eingedrungen. Am Freitag wurde der Lido di Venezia für fast eine Stunde von einer Demonstration lahm gelegt. Schweigend forderten Hunderte, manche auf Krücken, einige in Rollstühlen, ein besseres Gesundheitssystem in Italien. Erschreckend: Die Demonstration der überwiegend Alten und Schwachen wurde mit starkem Tobak von den Hütern der Macht beantwortet: Polizei und Militär waren omnipräsent, selbst Wasserwerfer wurden aufgefahren. Die kamen, zum Glück, nicht zum Einsatz. Doch da steht dann schon die Frage im Raum: Was ist das für eine Demokratie, die vor Angst zittert und Gewalt androht, weil Teile des Volkes ihre Meinung zum Ausdruck bringen – still, friedlich, verhalten?

Gottlob haben die Filme im Wettbewerb angezogen. Auch hier: Realität im Visier. Besonders im Gespräch sind zwei Filme, völlig gegensätzlich in ihrer Art, doch ähnlich im Versuch, die Wirklichkeit künstlerisch originell zu spiegeln. Aus Russland kommt „Silent Souls“. Regisseur Aleksei Fedorchenko erzählt eine kleine, feine Geschichte um zwei Männer, die den Sinn des Lebens nirgendwo entdecken können. Ausgangspunkt ist der Tod der Frau des einen. Der andere war ihr platonischer Liebhaber. Einer alten Tradition entsprechend machen sich die zwei mit der Leiche auf, um die Verstorbene in freier Natur zu verbrennen. Am Ende, man ahnt, es, gelangen sie an ein Ziel, von dem eine Umkehr unmöglich ist.

Silent Souls (Regie: Aleksei Fedorchenko, Russland 2010)

Verhaltene Dialoge und Off-Kommentare voller Lyrik und Geheimnis, dazu eine wunderbar unaufdringlich die Natur und das soziale Umfeld einfangende Kamera, und die beiden Hauptdarsteller, Igor Sergejew und Yuri Tsurilo, geben der Ballade von der Unmöglichkeit, die eigene Individualität wirklich frei zu leben, eine ungemeine Kraft. Der ganze Film atmet die Schönheit eines surrealistischen Gedichts. Man versinkt in einer Welt, die einem vollkommen fremd erscheint, und wird zugleich angeregt, über die eigene Existenz nachzudenken.

Als Komödie getarnt, denkt der französische Regisseur François Ozon in „Potiche“ über Ähnliches nach. „Potiche“ bezeichnet im Französischen einen unnützen Gegenstand, eine Vase, die einem geschenkt wird, die man auf der Vitrine abstellt, die man nie benutzt. Und man bezeichnet damit Personen, die in eine ähnliche Rolle gedrängt werden, wie so eine Vase, die eines nutzlosen Ziergegenstandes. Suzanne, die Hauptfigur der in den späten 1970er Jahren angesiedelten Geschichte, ist so eine „Potiche“. Zunächst. Die Industriellengattin, Mutter zweier erwachsener Kinde, hat schön zu sein, und den Mund zu halten. Doch die Umstände stoßen sie in eine aktive Rolle. Suzanne muss den Betrieb ihres Mannes übernehmen. Als der von Krankheit genesen, wieder auf seine alte Position zurück will, hat sie gefälligst abzutreten. Das tut sie. Und unternimmt dann einen höchst ungewöhnlichen Schritt… – Ganz simpel lässt sich der flott inszenierte Film, der viele brüllend komische Szenen und Dialoge enthält, als Komödie über die Kraft der Frauen, als Kommentar zur Emanzipation der Geschlechter deuten. Dazu allerdings kommt eine zweite Ebene, auf der die Grenzen jedweder Emanzipation mit weisem Humor aufgezeigt werden, und, das ist das Beste, ganz nebenbei gibt der Film einen bösen Kommentar zum Wieder-Erstarken des Machismo in den politischen (Un)Kulturen der so genannten westlichen Welt.

Umgesetzt hat Ozon das elegante, von einem Theaterstück angeregte Drehbuch mit exzellenten Akteuren, darunter ein wunderbar beschwingt spielender Gérard Depardieu und eine hinreißend vieldeutige Catherine Deneuve. Bildschön, und dabei keineswegs nach dem Geschick plastischer Chirurgen aussehend oder krampfhaft auf jung getrimmt, spielt die Deneuve eine ihrer schönsten Rollen seit Jahren. Sie darf  biestig sein und sentimental und sexy und klug. Hinreißend! Ganz klar: Das Publikum in Venedig, und sogar die Mehrheit der doch eher allem Unterhaltsamen abholden Kritikerinnen und Kritiker, haben sie hier am Lido di Venezia heftig bejubelt und frenetisch gefeiert.

Potiche (Regie: François Ozon, Frankreich, Belgien 2010)

Ozon gelingt das Kunststück, über Deneuve und Depardieu den Glamour längst vergangenen Kintoppzaubers mit heutigen Sehgewohnheiten zu verbinden, und die Diva und den Star zugleich sehr genau in der bürgerlichen Gesellschaft zu verankern. Besonders erfrischend daran ist, wie es ihm gelingt, den Alltag in einer Fabrik und sogar harte Arbeitskämpfe, Streik inklusive, einzufangen. Das ist von großer Klasse. „Potiche“ gehört zu den bisher wenigen Filmen dieses Festivals, auf die man sich im Kinoalltag freuen darf. Nicht minder auf „Silent Souls“. Beide Filme haben weite Aufmerksamkeit verdient.


Peter Claus