Heute Abend gehen sie los, die 68. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Offiziell. Inoffiziell war schon gestern, am Dienstag, der Start, mit ersten Presseaufführungen.

Und da durfte man denn schon ein bisschen die Luft anhalten – weil: das Fernsehen wurde am Lido di Venezia gefeiert. Außerhalb aller Konkurrenzen lief zu Ehren von Jury-Mitglied Todd Haynes die von ihm für den US-Fernsehsender HBO realisierte fünfteilige Miniserie „Mildred Pierce“. Das darf auch filmpolitisch als Fingerzeig verstanden werden: Ohne das Fernsehen, dessen Finanzhilfen, so die subtile Botschaft, könnte das Kino längst einpacken. Ist nicht schön, aber wahr.

Die Adaption des Romans für HBO, einen der weltweit wohl besten Kabelsender mit Hang zum Anspruchsvollen, ist, auch das nicht schön, nicht wirklich gelungen. Zwar spielt Kate Winslet die Titelrolle gewohnt akkurat und mit diversen darstellerischen Mitteln, doch bleibt Langeweile nicht aus. Die Mutter-Saga ertrinkt nämlich geradezu in der peniblen Rekonstruktion der 1930-er Jahre. So toll Miss Winslet auch weinen kann, Verzweiflung mimen, eine Mittelstandsfrau charakterisieren und ein Muttertier analysieren kann – gegen den Mythos der Hauptdarstellerin der in den 1940-er Jahren entstandenen Kinofassung des Buches kommt sie nicht an: Joan Crawford. Die bekam zu Recht einen „Oscar“. Ihr überzogenes Spiel – perfekt zur Story und zur damaligen Gestaltung passend – kann einfach nicht übertroffen werden. Die Serie wirkt da nur wie ein schwacher Aufguss. Hoffentlich ist das kein Omen für diesen Filmfestspiel-Jahrgang in Venedig!

Hier geben in diesem Jahr die US-Amerikaner so ziemlich den Ton an. Hollywood bestreitet schon die Eröffnung heute Abend mit „The Ides Of March“. Allerdings: Traumfabrik wird in diesem Fall wohl nicht geboten. Hauptdarsteller, Drehbuch-Mitautor und Regisseur George Clooney offeriert dem Vernehmen nach ein spannendes, zeitkritisches Drama vor dem Hintergrund politischer Machtkämpfe. Damit dürfte der Film dem Ideal von Festspiel-Chef Marco Müller ziemlich genau entsprechen. Müller, der angeblich in diesem Jahr seinen Abschied von Venedig gibt, hat sein Ideal so umrissen: „Filme, die unterhalten, aber einem ebenso das Gefühl geben, man habe sich verändert, sobald man den Kinosaal verlässt“.

[media id=92 width=640 height=320]

Stars wie David Cronenberg, William Friedkin, Abel Ferrara und Todd Solondz haben mit früheren Arbeiten herausragende Qualität bewiesen. Jetzt wollen sie mit ihren neuen Produktionen beweisen, dass sie den selbst gesetzten Maßstäben treu bleiben. Was angesichts der immer größeren Profitgier der etablierten Studios zwischen New York und Los Angeles nur bewundert werden kann. Kein Wunder, dass Müller, dessen Herz immer für das materiell und geistig unabhängige Kino der Individualisten schlug, die manchmal gar nicht mehr so stillen Rebellen Hollywoods unterstützt. Daneben gilt sein besonderes Augenmerk dem Kino Asiens, dem bekannterweise seine ganz persönliche Leidenschaft gehört. Mit den neuen Filmen der Hongkonger Regisseurin Ann Hui und des Taiwanesen Wei Te-Sheng wird massenwirksame Qualität versprochen. Auch Frankreichs Filmemacher dürfen glänzen: Die neuen Arbeiten von Philippe Garrel sowie dem Duo Marjane Satrapi/ Vincent Paronnaud werden mit besonderer Spannung erwartet. Und, natürlich, „Carnage“, der neue Spielfilm von Roman Polanski, die Adaption des Theatererfolgs „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza, eine internationale Gemeinschaftsproduktion (Frankreich/ Deutschland/ Spanien/ Polen).

Mit Polanski kommt im Internationalen Wettbewerb, dem Herzstück der Filmfestspiele, der „Mostra Internazionale dell’Arte Cinematografica“, auch deutsches Geld ins Spiel. In Venedig laufen zahlreiche Filme, die von deutschen Produzenten mitfinanziert worden sind: „Tinker, Tailor, Soldier, Spy“ von Tomas Alfredson (Großbritannien/ Deutschland), „A Dangerous Method“ von David Cronenberg (Deutschland/ Kanada), „Chicken With Plums“ von Marjane Satrapi and Vincent Paronnaud (Frankreich/ Belgien/ Deutschland). Der Grund ist klar: Es gibt kaum mehr Firmen, die genug Finanzkraft haben, um ganz allein einen aufwändigen Spielfilm zu stemmen. Grenzüberschreitende Gemeinschaftsproduktionen sind die Regel. Wenn gute Filme dabei herauskommen, wird das den Kinobesuchern egal sein.

Apropos Deutschland: Regisseur Romuald Karmakar, der 1995 in Venedig  Ehre und Preissegen (für Hauptdarsteller Götz George) mit „Der Totmacher“ holte, zeigt in der neben dem Wettbewerb wichtigen, sich gern dem Experimentellen widmenden Sektion „Orizzonti“ „Die Herde des Herrn“. Das Kino made in Germany hat also durchaus Chancen in Venedig, reichlich Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ach, ja – das liebe Geld: 37 Millionen Euro soll bisher die Baustelle für den geplanten Festspiel-Neubau verschlungen haben, den die Italiener schon längere Zeit als „Das Grab des Pharao“ verspotten. Das wird nun beerdigt. Es wurde bekannt gegeben, dass der Bau nicht realisiert werden wird. Zwei kleinere neue Kinos müssen ausreichen. Das dürften sie auch. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Zuschauerzuspruch hier in den letzten 21 Jahren auch nur einmal derart groß war, dass Leute nicht ins Kino gekommen sind. Aber vielleicht ist ja in diesem Jahr alles ganz anders. Auf jeden Fall ist es das alte Festspiel-Palais, das Mitte der 1930-er Jahre erbaut wurde. Es strahlt in neuem alten Glanz, frisch im Stil von 1937 renoviert. Nur die damals allüberall aufgestellte Büsten und Bilder des Herrn Mussolini wurden nicht aus der Versenkung geholt.

Peter Claus aus Venedig, 31. August 2011

 

Bild/Trailer: The Ides of March by George Clooney, opening film 68th Venice Film Festival 

(la Biennale di Venezia © 2011)

zur Festivalseite