Wenn Lars vom Kaffeetisch aufsteht, nimmt er immer schon Geschirr mit zur Spüle. Wenn etwas fehlt springt er hoch, wenn ein Gang zu tun ist, ist er sofort dabei, wenn man vor ihm steht mit zwei Tragetaschen, hat er Sekunden später eine davon in der Hand. Er kann nicht anders. Er ist ein Helfer, wie unter Strom. „Allzeit bereit“, sagt ein alter Pfadfinderspruch. So schnell wie er handelt, so schnell redet Lars auch, im badischen Dialekt, er liebt Klatsch und Tratsch und Opern, er lacht gerne. Die Augen aber sind klein, ein wenig müde, und die Mimik wirkt straff, als habe sich alle Lebendigkeit schon in den Bewegungen des Körpers erschöpft.

Lars ist heute 54, Krankenpfleger im süddeutschen Raum, und er hat eine Jugendgeschichte, die nach Sensation klingt oder einfach nach Tristesse: Von seinem 15. bis 23. Lebensjahr war er mit einem katholischen Priester zusammen. Dass jetzt die ganzen Missbrauchsfälle ans Licht kommen, erleichtert ihn ungeheuer. Auch, dass die Sache einen Namen hat, denn, so sagt er, „man war ja selbst verunsichert, ob es Missbrauch war, ja oder nein?“ Immer die alten, nie auszuräumenden Zweifel. Sie sind typisch für Missbrauch und führen, auch bei Lars, zu diesen schwankenden Sätzen, den kleinen Einschüben, die mit schneller Bewegung die Eindeutigkeit einer Urteils wieder zurücknehmen, „ein bisschen“, „schon“, „zeitweise“: „Ja, zeitweise habe ich schon Schaden genommen durch den Peter.“ Wer weiß schon, ob ein Gefühl echt und wo die Grenze überschritten ist.

Als Lars seinen Priester kennen lernte, war er 13. Der Geistliche war damals als junger Kaplan neu in die Pfarre der Kleinstadt gekommen, ein sympathischer, lockerer Mann von 29 Jahren und für Lars das Gegenbild dessen, was er von zu Hause kannte. Denn daheim herrschte das knallharte, autoritäre Regiment des Vaters. Beim Essen lag der Rohstock immer mit auf dem Tisch, und wenn der Vater abends von der Arbeit kam, herrschte „Totenruhe“ im Haus. Lars, der fünfte in der Reihe von sieben Geschwistern, hatte eine Heidenangst vor ihm. „Meine Kindheit und Jugend war also weniger schön, sie war nervig und stressig“, so sagt er das. Er ist voll von Geschichten über den Vater.

Peter war anders. Jung, aufgeschlossen und zugewandt gab er Religionsunterricht in der Schule und traf Lars auch beim Ministrantendienst in der Kirche. Lars fühlte sich hingezogen, „weil er mich einfach nett behandelt und auch mal den Arm um mich gelegt hat. Das war sehr wohltuend.“ Der Priester suchte Nähe zu Lars’ Familie. Zwei bis drei mal in der Woche besuchte er sie, spielte mit den Kindern „Mensch ärgere dich“ oder Karten.

Zum ersten sexuellen Kontakt kam es, als der Kaplan schon zwei Jahre in der Pfarre war. Lars erinnert sich noch genau an den 29. Mai 1971, er war gerade 15 geworden. Peter war noch spät abends bei der Familie gewesen und hatte den Schlüssel vom Pfarrhaus vergessen. So übernachtete der Herr Kaplan in einem freien Bett im Zimmer der Jungen. Als Lars’ Brüder eingeschlafen waren, gab Peter vor, ihm sei kalt. Ob Lars nicht zu ihm kommen wolle, um ihn zu wärmen. „Zunächst fand ich das angenehm, diesen Körperkontakt. Als er mir dann zwischen die Beine gegriffen hat, fand ich das komisch, ich hab’s aber zugelassen, weil ich dachte, bevor du jetzt nein sagst und zurückgewiesen wirst, guckst du mal, was er will.“ So hat es angefangen. Lars, „der Spätzünder“, hatte keine sexuellen Erfahrungen bis dahin, er war glatt und unbedarft, hatte wenig Interesse an Mädchen oder Jungs. Was da mit ihm und dem Priester geschah, habe er nicht wirklich realisiert. „Ich war völlig verwirrt, ich weiß zum Beispiel, dass mir den ganzen nächsten Tag über schlecht war. Ich kann’s nicht mal jetzt richtig beschreiben, es gibt kein entsprechendes Gefühl dazu.“

Am Folgetag holte der Priester Lars nach dem Mittagessen ab. Er solle niemandem erzählen, was da gelaufen sei, es sei aber sehr schön gewesen und er wolle dass es weiter so ginge. „Ich konnte gar nichts dazu sagen“, erzählt Lars heute, „ich war richtig kaltschweißig, auch am ganzen Körper, überall so fühllos ein bisschen. Und andererseits wollte ich die Nähe mit ihm nicht verlieren. Es war ganz widersprüchlich.“

Peter, der gute Freund des Hauses, kam jetzt täglich, allerdings oft incognito. „Es gab ein Geheimzeichen. Peter ging hinters Haus und pfiff ‚leicht, leicht und bekömmlich’, eine Werbemelodie für Margarine. Das war das Signal für mich, so schnell wie möglich von zu Hause loszukommen zu einem Treffpunkt, wo Peter mit dem Auto wartete.“ Sie fuhren dann in den Wald, meist unter dem Vorwand, den Hund spazieren zu führen, und „trieben es im Auto. Auf eine gewisse Art“, sagt Lars, „war ich froh, von zu Hause wegzukommen.“

Während der acht Jahre dieser Beziehungsgeschichte wurde Intimverkehr zum täglichen Ritual. „Wir haben jeden Tag Sex gehabt, sofern wir am selben Ort waren, jeden Tag.“ Der Priester nahm an der Entwicklung des Jungen teil, die ersten Schamhaare, die kamen, der Stimmbruch, alles faszinierte ihn, er drängte nicht gewaltsam, zumindest nicht am Anfang, er ließ sich befriedigen. Und es gab diesen Blick, den Peter bekommen konnte, wenn die Geilheit ihn überkam. „Das war ein kurzer Moment, da musste man durch. Er hat mich dann fixiert mit einem Grinsen, das fast etwas Dämonisches hatte, und ich hab dann gedacht, ach, jetzt geht’s wieder los.“ Doch Peter war der Lehrer, und Lars war lange Zeit noch per Sie mit ihm, auch im Bett. Erst sehr spät kam Penetration hinzu. „Ich kann mich an eine Situation erinnern, da wollte er das unbedingt, und es hat tierisch weh getan. Ich hab gesagt, ich will nicht, er hat aber trotzdem weiter gemacht. Das war das einzige Mal, dass es so ein bisschen Gewalt war.“ So ein bisschen.

Mit 16 beendete Lars die Schule, doch die Beziehung zum Priester lief weiter, der holte seinen Geliebten überall von den diversen Lehr- und Arbeitsstellen mit dem Auto ab. Ende 1973 übernahm er eine eigene Pfarrei in der Nähe des Bodensees, und ein halbes Jahr später zog Lars, der es zu Hause nicht mehr aushielt, zu ihm.

Was wissen die Leute, was wollen sie wissen? „In der Gemeinde hieß es, ach der Pfarrer, der ist sozial, er hat viele Räume und nimmt einen jungen Mann auf.“ Lars’ Mutter ahnte nichts, der Vater interessierte sich nicht. Erst spät, 1977, also im sechsten Jahr der Beziehung, hat Lars sich seiner Schwester gegenüber geöffnet, „doch die war völlig überfordert, sie hat komisch reagiert.“ Spätestens ab da aber gab es das Gerücht über ihn und den Pfarrer zumindest im Geschwisterkreis. Geredet hat aber niemand, es gab kein Außen. Und wusste die Kirche? Die wusste. Viel später, um 1990 herum, ließ der Personalreferent der zuständigen Erzdiözese Lars über einen Dritten mitteilen, wenn er überdies Psychotherapie bräuchte, könne er sich melden. Der Personalreferent von damals ist heute ein hoher Würdenträger der katholischen Kirche Deutschlands.

Recht besehen, ist vieles an der Geschichte kein Skandal. Als Lars zu Peter zog, war er 18 und – nach heutigen Vorstellungen jedenfalls – alt genug. Vieles wäre kein Problem, wenn Sex keine Sünde wäre. So aber griff das Schweigesystem, und das war es, was Lars, der einen Vaterersatz suchte und dafür seinen Preis zahlte, nachhaltig verletzte. Er hat in Autos übernachtet, um nicht gesehen zu werden, er war verfügbar in den kurzen Zeiten, wenn der viel beschäftigte Pfarrer eine Erleichterung brauchte. Er war ein Schatten, ein Nichts, ein Niemand, und er war mit der Sache hoffnungslos allein.

Ihr Ende fand die Geschichte, als der Priester seine 18 Jahre jüngere Haushälterin schwängerte. Ein Klassiker eigentlich. Über die Art der Trennung ist Lars lange nicht hinweggekommen, kühl und brutal wurde er vor die Tür gesetzt. Der Priester beantragte seine Laisierung und löste den Pfarrhaushalt auf, ohne noch einmal wirklich mit Lars zu sprechen. Er wurde dann – man bleibt ja Pädagoge – Leiter eines Landschulheims am Bodensee.

Fünf Jahre hat es gedauert, bis Lars wieder eine sexuelle Beziehung aufbauen konnte. dazwischen war nichts, er hat nur „geheult, gejault, gelitten wie ein Schwein.“ Trennungen sind oft traumatisch, was den Rest seines Lebens aber überschattet, ist der Verrat, das Gefühl, die besten, wichtigsten Jahre verschenkt zu haben an eine Abhängigkeit, ein Versteckspiel, bei dem es nie um ihn ging. Sexuelle Ausbeutung wäre das passende Wort, das Lars nicht verwendet.

War es Missbrauch? „Am Anfang war es das auf alle Fälle, für die ersten zwei Jahre“, sagt Lars. „Aber ich kann die Grenze nicht genau ziehen, weil es bei mir zur Gewohnheit wurde, weil irgendwann auch der Punkt kam, an dem es mir Spaß machte und ich mich darauf eingelassen hatte. Ich denke dann, nach zwei Jahren hättest du ja, wenn’s nur Missbrauch gewesen wäre, ein bisschen mehr Abwehr zeigen können, du hast dich ja gar nicht wirklich gewehrt, hast ja nicht wirklich was unternommen.“ Immer die alten, nie auszuräumenden Zweifel über die eigene Mittäterschaft, typisch für Missbrauch als der perfektesten Kunst mit Grauzonen zu spielen.

Text: Andrea Roedig

Text zuerst erschienen in: taz