Der Horror der Banane

Es war sechs Jahre nach dem Krieg und es ging wieder aufwärts. Das Wirtschaftswunder begann und die Menschen wollten Spaß. Einer der unterhaltenden Filme, die in den westdeutschen Kinos zu sehen waren, hieß »Weißes Gift« und er handelte von internationalen Rauschgiftschmugglern in Südamerika. Im Orginal hieß der Film »Notorius« und handelte von deutschen Nazis, die in Südamerika Uran suchen. Man hatte, mit Rücksicht auf die deutschen Befindlichkeiten, die Story ein wenig umgeschrieben.

Alfred Hitchcock hatte keine Meinung über die Umstände dieser Welt und er hatte keine Botschaften für sie. Die Nazis in Rio (»Notorius«) waren ihm so gleichgültig wie die Stasi in Leipzig (»Der zerrissene Vorhang«). Die Welt ein Vorwand, die Geschichte ein Anlass. Er hatte nichts zu erzählen, er hatte nur etwas zu zeigen aber das, wie kein anderer vor ihm.

Der 1980 gestorbene Regisseur realisierte seinen ersten eigenen Film 1925 in München. Das war, natürlich, ein Stummfilm und der allererste Job des Mannes waren die Zwischentitel für solche Filme. Hitchcock ist einer der wenigen Regisseure, die den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm produktiv zu machen vermochten. Als er seinen ersten Tonfilm inszenierte (»Blackmail«, 1929) hatte er bereits um die zehn stumme Filme gemacht eine Erfahrung, die ihn all die kommenden Jahrzehnte hindurch prägen sollte: Das traumwandlerische Gefühl dafür, dass die Kunst des Kinos die seiner Bilder ist. Wenig Regisseure haben so früh, so konsequent auf das visuelle Erzählen vertraut, nachdem die Bilder auch das Sprechen lernten.

Alfred Hitchcock gilt der Filmgeschichte als der »Master of Suspense«, der Meister der Spannung und auch diese Technik muss er wohl in der Beschäftigung mit dem Stummfilm gelernt und kultiviert haben. Francois Truffaut nannte in einem der bekanntesten Filmbücher überhaupt (»Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?«) Suspense »die Dehnung einer Erwartung«: Nicht die überraschende Katastrophe erzeugt die Spannung, sondern die erwartete. Exemplarisch demonstriert er das in »Der Mann, der zuviel wusste« (1934). Das Attentat auf den Staatsmann soll während eines Konzertes stattfinden und der Killer wird in jenem Augenblick feuern, da der Beckenschläger des Orchesters seinen einzigen Einsatz hat. Und so erwarten wir diesen einen Schlag, eigentlich die komische Nummer des Orchesters, mit steigender Spannung. Hitchcock kultivierte und konservierte gleichsam eine komische Grundfigur des Stummfilmes, die Bananenschale: Da sehen wir diese Bananenschale und dort diesen Mann, und er wird unweigerlich ausgleiten auf ihr. Das wird uns nicht überraschen, denn wir wissen, dass es geschehen wird, doch das Warten darauf erhöht unser Amüsement. Hitchcock zeigt fast immer die Bananenschale, ehe er seinen Mann darauf ausgleiten lässt, so haben wir länger etwas davon. Es ist das Prinzip der »Vögel« (1963): Wir sehen, ziemlich zu Beginn, diesen harmlosen Vogel sitzen und wir wissen, er wird da nicht sitzen bleiben. Das ist die untergründig rumorende Spannung, das ist der »Hitchcock-Touch«: Die Fähigkeit, die Bilder aufzuladen mit einer Spannung, die, natürlich, auch eine Manipulation ist, der sich das Publikum gern aussetzt und am Ende fragt es nicht, warum. Es ist auch gleichgültig. Denn Alfred Hitchcocks ganze Philosophie ist der MacGuffin. Der Meister erzählte Truffaut, was das ist: Zwei Schotten fahren in der Eisenbahn und der eine fragt den anderen, was da im Gepäcknetz liege. »Oh, das ist ein MacGuffin«. »Was ist ein MacGuffin?« »Ein MacGuffin ist ein Apparat, um in den Bergen von Adirondak Löwen zu fangen.« »Aber es gibt gar keine Löwen dort«. »Nun, dann ist es eben auch kein MacGuffin«. Ein MacGuffin ist ein Nichts, ein vollkommen überflüssiges Ding: Es ist das, worum sich in der Geschichte alles zu drehen scheint, die Formel, das Uran und was doch nur der Vorwand ist. In »Cocktail für eine Leiche«, seinem ersten Farbfilm (1948) bringen zwei Studenten, um den perfekten Mord zu probieren, einen dritten um und legen ihn in jene Truhe, auf der eine halbe Stunde später zur Party die Schnittchen serviert werden: Das ist der MacGuffin, der Vorwand, kein Mensch interessiert sich für den toten Mann in der Kiste, nur für seine mögliche Entdeckung. So wie sich kein Mensch dafür interessiert, ob es nun um Kokain oder Uran geht. Alles, was Hitchcock an »Notorius« interessierte, war, dass die Agentin den einen Mann liebt und mit dem anderen schläft, weil der Job es so will. Und es ist kein Zufall, dass in einem der schönsten Filmbücher kaum je über die Welt gesprochen wird aber fast immer über Handwerk. Und kein Mensch würde je fragen: Mr. Hitchcock, warum haben Sie das gemacht?

Alfred Hitchcock war nie ein Entwerfer von Welten, nur von Ängsten. Er war kein Philosoph, nur ein Handwerker. Vielleicht war er deshalb so perfekt, weil er so hemmungslos gleichgültig war gegenüber den Gründen seiner Geschichten und so erbarmungslos professionell gegenüber ihren Bildern. Und vielleicht lieben wir ihn deshalb.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 2000