Heroische Feiglinge

Auch die NS-Täterseite war ständig von einer Suizidwelle erfasst  / Christian Goeschels aufschlussreiche historiographische Studie zum „Selbstmord im Dritten Reich“

Statistiken haben etwas Verführerisches an sich. Aus Zahlen, Kurven und Verläufen spricht eine scheinbar objektive Gewissheit und die daraus gewonnenen Ergebnisse lassen sich zu allen möglichen Zwecken einsetzen. Ein besonders sensibles Feld waren (und sind immer noch) die jeweiligen nationalen Selbstmordraten. In Deutschland, wo die Suizidfälle nach dem Ersten Weltkrieg auffällig höher lagen als etwa in den alliierten Siegerstaaten Frankreich oder England, hat man schlimme Erfahrungen mit diesem Thema gemacht. Offiziell starben in Deutschland zwischen 1919 und 1933 insgesamt 214.419 Menschen durch Selbstmord. „Wenn Meinungsmacher einen Beleg für den Verfall der Republik suchten, zogen sie die Selbstmordraten heran,“ schreibt der Historiker Christian Goeschel in seiner Studie „Selbstmord im Dritten Reich“.

Jede dieser kriminalpolizeilich registrierten Leichen wurde den Gegnern der ersten deutschen Republik zum Beleg ihrer politischen Propaganda, zum Sargnagel einer hoffentlich bald überwundenen Zeitepoche. Die linken Grabredner betrauerten die Toten von eigener Hand als bemitleidenswerte Opfer von Verarmung und sozialem Elend. Für die Demagogen von rechts waren sie das Ergebnis der schreienden Ungerechtigkeit des Vertrags von Versailles. Dumm nur, dass nach 1933, als die Arbeitslosigkeit abgeschafft sein sollte und der NS-Volksstaat anbrach, die einschlägige jährliche Sterbequote annähernd gleich hoch auf dem Niveau der Einwohnerzahl einer deutschen Kleinstadt blieb. Das war so skandalös, dass Selbstmörder in der Früh- und Blütephase des Dritten Reichs als „Feiglinge“ oder „Egoisten“ beschimpft wurden. Doch in der Endphase, als schon alles verloren war, galt der Freitod den Nazi-Größen als ein „heroisches Selbstopfer“. Wie es dazu kam, erklärt das Buch von Christian Goeschel, das 2009 in England unter dem Titel „Suicide in Nazi-Germany“ erschienen ist und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Goeschel verbindet den positivistischen, statistischen Erkläransatz mit kulturwissenschaftlichen Elementen. Er will das Phänomen des Selbstmords über drei Wege, über Diskurs, Gesellschaft und Individuum erklären. Ein Vorhaben, das dank geduldiger Quellen-Erschließung in diversen Archiven erschütternde und aufschlussreiche Fundstücke ans Tageslicht bringt.

Mit dem naheliegenden Schluss, die anhaltende Konjunktur des Selbstmords in der NS-Zeit gehe wesentlich auf das Konto der Opferseite und der vielen rassistisch wie politisch begründeten Selbstmorde, räumt Goeschel schnell auf. Er erinnert daran, dass der Anteil der Juden in Deutschland vor 1933 und vor dem Genozid „sehr gering war (unter einem Prozent)“. Selbst die unbestritten vielen politisch motivierten Selbstmorde nach 1933 reichen nicht aus, um diese Vielzahl an Todesfällen hinreichend zu erklären. Was im Umkehrschluss bedeutet: Hand an sich selbst zu legen, sich zu erhängen oder zu erschießen (Männer), den Gashahn aufzudrehen oder Gift zu schlucken (Frauen) – um nur vier der am stärksten verbreiten Methoden der Selbstmörder aufzuführen – von diesem Gefühl verzweifelter  Ausweglosigkeit müssen auch viele Täter und Profiteure des NS-Systems erfasst gewesen sein. Zu allen Zeiten, nicht nur in jenen der Katastrophe. Adolf Hitler und Heinrich Himmler als dem Chef der SS wie der deutschen Polizei waren sich dieses Problems sehr wohl bewusst, wie frühe interne Rundschreiben belegen. Doch selbst drakonische Strafandrohungen und Sanktionen für die Familie (Rentenentzug) konnten viele der NS-Getreuen von diesem Schritt nicht abhalten.

Selbstmord war den Nazis aber auch ein probates Mittel im politischen Kampf. Bei der Beseitigung politischer Gegner und „lebensunwürdigen Lebens“ als auch bei der Ausschaltung von Dissidenten in den eigenen Reihen. Zwischen Vernichtung und Selbst-Vernichtung wurde kein großer Unterschied gemacht. Julius Streichers Kampfblatt „Der Stürmer“ applaudierte höhnisch hinter Juden her, die ihrem Leben selbst ein Ende gemacht hatten. Bei SA-Führer Ernst Röhm appellierten die SS-Schergen zynisch an sein Ehrgefühl als ehemaliger Offizier, als sie ihm in die Gefängniszelle eine Pistole legten. Als Röhm dieser kaum verhohlenen Aufforderung nicht sofort nachkam, nahmen seine Mörder die Sache selbst in die Hand. „Selbstmorden“ nennt Goeschel diese Methode der Nazis, der Rechtssprechung auf die Sprünge zu helfen und das womöglich schwierige Untersuchungs- und Gerichts-Verfahren drastisch abzukürzen.

Aufregend auch der Umschwung, den die Bewertung des Selbstmords erlebte, als sich der Nationalsozialismus selbst radikalisierte. Die Verfügungsgewalt, den das System über den Einzelnen ausübte, totalisierte sich während des Zweiten Weltkriegs. Ein Jude, der sich der Deportation durch Selbstmord zu entziehen suchte, wurden nach Kräften daran gehindert. Natürlich nicht aus Gründen wiederentdeckter Menschenliebe. Diese letzte Bekundung eines freien Willens wurde von den Nazis als perfider Versuch gewertet, das KZ-Prinzip der „Vernichtung durch Arbeit“ zu unterlaufen.

Schließlich die letzten Tage und Wochen des Kriegs. Hier feierte Goebbels’ Propaganda einen ihrer Triumphe, als sie den „Volksgenossen“ die Angst vor dem Einmarsch der Roten Armee erfolgreich einhämmerte und damit eine letzte massenhafte Selbstmordwelle auslöste. Im April 1945 brachten sich allein in Berlin 3881 Menschen – darunter viele Frauen – um, was einer nahezu fünffachen Erhöhung der Quote im Vergleich zu den Jahren zuvor entsprach.

Im Führerhauptquartier meditierte Hitler als „der potenzielle Selbstmörder par excellence“ (Sebastian Haffner) mit Goebbels über Carlyles Geschichte Friedrich des Großen, der im Siebenjährigen Krieg auch schon mal mit dem Gedanken gespielt hatte, durch Gift aus dem Leben zu scheiden. Imponiert haben Hitler auch die römischen Generäle, die nach verlorener Schlacht sich ins eigene Schwert stürzten. Hier suchte jemand nach großen historischen Vorbildern, um in deren Ahnenfolge zu treten.

Die Giftmorde im eingekesselten Berlin haben noch einmal eine Reihe von Nachahmertaten ausgelöst. Und es folgte der Kollaps. An dieser Stelle erweist sich Goeschel als getreuer Schüler der englischen Historiker Ian Kershaw und Richard J. Evans, wenn er ersteren mit einem Kernsatz zitiert: Demnach war Hitlers „autoritäre Herrschaftsform nicht in der Lage, sich zu reproduzieren und das eigene Überleben zu sichern.“ Das Paradoxon vom Nationalsozialismus als „charismatische Herrschaft ohne persönliches Charisma“ lässt grüßen.

Goeschels zentraler Topos ist der der Anomie. Im Rückgriff auf Emile Durkheims Werk „Der Selbstmord“ von 1897 wertet er die Zeit des deutschen  Nationalsozialismus „als den totalen Zusammenbruch von Normen und Werte“ und erklärt den völkischen Totalitarismus als eine Antwort auf die Entwertung aller Werte, die schon längst vorher eingesetzt hatte und auf die viele Deutsche nur mit Selbstmord antworten konnten. So ganz befriedigend ist diese Erklärung nicht. Wie zur Selbstberuhigung verweist der Autor zwar darauf, dass in dem Maß, wie die politisch-ökonomische Situation in Westdeutschland sich stabilisiert habe, auch die Selbstmordrate wieder ins Lot gelangt sei. Die Anomie ist überstanden, der Demokratie sei Dank? Und wie erklären sich dann die Selbstmorde von Stammheim oder – ganz aktuell – die aus Zwickau? Zwei Beispiele aus verschiedenen Lagern der deutschen Gesellschaft, die zeigen, dass die fatale Kette von Fanatismus, Terrorismus und Selbstmord weiter besteht.

Die philosophische Ebene von Goeschels materialreicher Untersuchung lässt ein paar Wünsche offen. Das intellektuelle Klima einer Moderne, in dem der Mensch erstmals zu nicht abgeleiteter, eigener Identität fand, wird nur schwach ausgeleuchtet. Zu den Antimonien dieses neuen Selbst-Sein gehörte eben auch, über sein Leben und den Zeitpunkt seines Sterbens frei zu verfügen. Goeschel belässt es weitgehend bei Verweisen auf die verloren gegangene Bindungskraft der großen christlichen Religionen und die Gegenstrategien der herrschenden Ideologie, deren Wissenschaftler den Selbstmord moralisch brandmarkten oder die Selbstmörder in ihrer psychischen Disposition pathologisierten. Wie sehr die Idee des Selbstmords im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Avantgarde aber gesellschaftsfähig wurde, wie stark die Entdeckung von Identität mit der Krise des modernen Subjekts zusammenfiel, darüber findet sich wenig beim im Londoner Birkbeck College lehrenden Historiker. Ganz zu schweigen von einem gender-theoretischen Ansatz, der Unbegreiflichkeiten wie den vielfachen Kindsmord und anschließenden Selbstmord einer Nazi-Heroine wie Magda Goebbels halbwegs begreiflich machen kann. Die verbreitete Melancholie einer Gesellschaft und besonders ihrer Frauen, die sich in der Krise zur kollektiven Depression auswächst, kommt bei Goeschel nicht zum Vorschein. Dazu ist diese „Gesamtdarstellung zum Selbstmord im Dritten Reich“ (Verlagswerbung) denn doch zu stark historiographisch, zu wenig kulturtheoretisch angelegt.

Michael André

Selbstmord im Dritten Reich
von Christian Goeschel,
aus dem Englischen von Klaus Binder,
338 Seiten, Suhrkamp Verlag Berlin 2011

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