Über Weinstein und Wedel zu #metoo im deutschen Kino und Fernsehen – Ein Frankfurter Positionspapier gibt Anlass, sich mit der Situation des deutschen Films auseinanderzusetzen

Als im Herbst 2017 in den USA der Fall Harvey Weinstein hochkochte, als im Frühjahr 2018 die #metoo-Bewegung nach Deutschland übergriff und mit Dieter Wedel einen berühmten Fernsehregisseur mit sich riss, da ergötzten sich die Medien wie ihr Publikum wochenlang am hemmungslosen Machtmissbrauch Einzelner und am verhüllten wie offenen Sexismus in der Filmbranche. Natürlich gelobten danach alle Besserung und innere Einkehr. Aber eine entscheidende Frage verhallte weitgehend ungehört: Welche Umstände haben eigentlich die Weinsteins und Wedels groß werden lassen? Welches System steckt hinter diesen Testosteron gesteuerten Männern, hat ihnen ihr unentschuldbares Fehlverhalten nachgesehen und einen Mantel gnädigen Vergessens über ihre Missetaten ausgebreitet? Beide Männer umgab die Aura des unbedingten Erfolgs. Weinstein und seine Company waren der Garant für die Kombination von „Oscars“ und internationalen Box-Office-Erfolgen. Wedel operierte auf bescheidenerem Level (wir bewegen uns in deutschem Verhältnissen), aber seine Mehrteiler galten bei ARD und ZDF lange Jahre als todsichere Quoten-Bank.

Andererseits: Der Filmregisseur Dieter Wedel war schon Vergangenheit, als ihn wie aus ferner Zeit Enthüllungen über Machtmissbrauch und Männlichkeits-Allüren einholten. Wiederholungen dieser Art scheinen ausgeschlossen. Also hat die Lektion scheinbar ihren Zweck erfüllt. Angst und Schrecken sind genug verbreitet und alles wird im Zeitalter von Frauenförderung und Transparenz besser, wenn nicht gar gut?

Nein, wohl eher nicht. An der toxischen Machtkonzentration in den Händen einiger Weniger hat sich nämlich nichts geändert. Die prekäre Zusammenballung von Entscheidungsgewalt hat nicht unbedingt mit Männlichkeit noch mit Gender-Zugehörigkeit denn mit Strukturen und Organigrammen zu tun, an deren Spitze eine kleine Funktionselite steht. Ein Mann wie Gebhard Henke, der als Person Opfer von #metoo Trittbrett-Fahrerinnen und eines rückgratlos agierenden Senders ist, bot schon durch die Fülle seiner Aufgaben und Funktionen breite Angriffsflächen für Projektionen und Unterstellungen aller Art. Aber auf die logische Idee einer Entflechtung von Machtkonzentrationen, die nicht allein ein WDR-Phänomen, sondern für einen Mini-Sender wie ARTE genauso typisch ist, kommen nur kleine Verbände wie die AK Dok West, Dokomotive Filmkollektiv, Filmbüro NW und LaDoc Filmnetzwerk. Mächtige Institutionen wie die Film- und Medienstiftung NRW schweigen dagegen beredt. Dabei wäre ein kultureller Neustart nötiger denn je.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit lohnt nähere Beschäftigung: Beim Lichter Filmfest in Frankfurt im April dieses Jahres machten sich Leute aus der Filmproduktion, dem Vertriebs- und Abspielbereich, der Filmbildung und Programmtätigkeit Gedanken darüber, was sich im deutschen Film ändern muss. 56 Jahre nach dem „Oberhausener Manifest“ wollen sie mit den „Frankfurter Positionen“ ein neues Zeichen schaffen. Die Zeit scheint überreif. Denn die ohnehin fragile ökonomische Basis des deutschen Films bröckelt gewaltig. Beim Deutschen Filmpreis in Berlin, diesem Jahresgedächtnis der vielbeschworenen deutschen Filmfamilie, waren diesmal die Alarmsignale unüberhörbar. Die sieben Lolas für das medial gehypte Romy-Biopic „3 Tage in Quiberon“ stehen in auffälligem Missverhältnis zu weniger als hunderttausend Besuchern innerhalb von drei Wochen nach der Kinopremiere. Das förderpolitisch immer wieder ins Spiel gebrachte Ziel einer Wirtschaftlichkeit erreichten von allen in Berlin nominierten deutschen Filmen allein Bora Dagdekins „Fack ju Göhte 3“ und – mit großen Abstrichen – Fatih Akins „Aus dem Nichts“. Das Schulkomödien-Sequel kam auf sechs Millionen Besucher und erhielt in Berlin den Trostpreis des besucherstärksten Films. Dagegen nehmen sich die sechshunderttausend Zuschauer für Akins NSU-Melodram geradezu bescheiden aus und Valeska Grisebachs vielgelobter Film „Western“ schnitt mit einem Box-Office-Ergebnis von dreißigtausend eklatant schwach ab.

Was also tun? Zuwarten, auf bessere Zeiten hoffen und sich damit trösten, dass der Marktanteil des deutschen Films einigermaßen stabil über die letzten zwanzig Jahre gerechnet bei rund 20 Prozent liegt? Den Dingen ihren Lauf lassen, die ewig geldhungrige Branche bei Laune halten, indem man ihr noch mehr als die bislang schon verausgabten zig Millionen Euro öffentlicher Fördermittel in den Rachen wirft? Das geht, und das geht erst recht in einem reichen Land wie Deutschland: 338 Millionen Euro Fördermittel von Bund und Ländern in 2017. Wirklich befriedigend sind solche Hängepartien nicht.

Am Schicksal eines Reformpapiers wie den „Frankfurter Positionen“ lässt sich aber ablesen, wie leicht selbst gut gemeinte Vorstöße Gefahr laufen, im existierenden Betrieb wirkungslos zu verpuffen. Sie werden stillschweigend zur Kenntnis genommen und erledigen sich durch Nichtbehandlung. Die Krise des deutschen Films mag noch so groß sein, die Fähigkeit seiner Branchenvertreter, sie zu ignorieren und Verbesserungsvorschläge an sich abperlen zu lassen, ist noch größer.

Lesen wir deshalb noch einmal, was die „Frankfurter Positionen“ im Einzelnen zu bieten haben. Das Papier ist zunächst einmal getragen vom bekannten Furor gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen. O-Ton des anonymen Frankfurter Redaktionskollektivs: „Wir halten es für dringend geboten, gegen die drohende Monokultur des deutschen Gremienfilms wieder einen Kinofilm der Kunstfreiheit zu ermöglichen und entschieden zu stärken – ein Kinofilm, der sich auch in inhaltliche und ästhetische Extreme wagt.“ Und das heißt: Loslösung vom Fernsehen.

Hier werden die Scheidungspapiere vorbereitet, durchaus in Anerkennung der glücklichen Jahre, die die beiden Seiten zu Zeiten des Neuen Deutschen Films miteinander hatten. Aber über die Jahre hinweg haben sich die Partner auseinandergelebt. Schlimmer noch: Die eine Seite (Film) fühlt sich von der anderen (Fernsehen) ständig bevormundet, gegängelt, wenn nicht gar drangsaliert, etwa mit Forderungen nach erweiterten Lizenzen für neue Distributionskanäle des digitalen Zeitalters oder mit schamlosen Durchstechereien für eigene Filmprojekte. Das Fernsehen hat sich dagegen mit dem Status quo einigermaßen gemütlich eingerichtet und wehrt eine Auflösung der alten Verbindung mit Verweis auf gemeinsame Geschichte und Verflechtungen vielfacher Art ab.

Dabei wären die Sender gut beraten, ihre Position zu überdenken und ggfs. zu räumen. Eine Liaison ist zum Scheitern verurteilt, wenn sie trotz (oder gerade wegen?) des ungeheuren bürokratischen Aufwands in Redaktionen, Gremien und Fördereinrichtungen in aller Regel nur einen ungeliebten Wechselbalg namens „Gremienfilm“ hervorbringt. Im Kino stehen diese Filme im Schatten der Blockbuster, im Fernsehen taugen sie nur für Spät-Spättermine. Viele dieser Kino-Koproduktionen tragen im Moment ihrer Bewilligung das Kainsmal des Untergangs an sich. Handwerklich gekonnt, können sie künstlerisch nicht überzeugen. Gleichzeitig soll ein Scheitern in Zeiten populistischer Arthouse-Programme und knapper Fernseh-Etats nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Mission impossible. Schlechte Zeiten für Experimente und Wagnisse aller Art.

Wenn das Fernsehen ehrlich zu sich selbst ist, dann muss es sich eingestehen, dass seine Liebe zum Kino weitgehend erloschen ist. Der Abgang von Gebhard Henke markiert auch auf diesem Feld eine Zäsur. Der deutsche Film verliert seinen letzten großen Liebhaber und Kenner, was vice versa auch für den Apparat des deutschen Fernsehens gilt. Die Loyalitätsbindungen sinken rapide auf beiden Seiten. Erst recht, wenn sich die eine auch noch die Freiheit nimmt, undankbar in die Fernsehhand zu beißen. So wie „Heimat“-Regisseur Edgar Reitz, der als Ahnherr des „Frankfurter Positionspapiers“ erscheint. Seine „4 Thesen zur Erneuerung der Filmkultur“ dienten den Kongressteilnehmern in Frankfurt als eine Art Blaupause für den eigenen Entwurf.

Bezeichnend für Reitz‘ Verbitterungsduktus ist folgende Passage: „Wir verhalten uns schon, als wären die Fernsehanstalten die reichen Onkels, die uns gnädig am Leben erhalten. In Wahrheit ist aber das Fernsehen bei dem herrschenden System der Gewinner, denn es gewinnt jedes Jahr viele Programmstunden mit hochwertigen Filmen, mit denen sie sich bestens profilieren können. Wenn die beschriebene Form der Koproduktion mit den Kinoproduzenten und Filmemachern ihnen abhanden käme, würden sie in große Verlegenheit geraten.“ Jeder halbwegs clevere TV-Manager wird über so viel Selbstüberschätzung eines Kreativen den Kopf schütteln und in zynisch-unbewusster Manier zur nächsten „Tatort“-Konserve greifen. Ein Archivfilm, der ihn obendrein billiger kommt als die vergleichsweise sündhaft teure Wiederholung jeder „Heimat“-Folge.

Mit seiner Klage über das Fernsehen bei gleichzeitiger Überschätzung der Attraktivität des eigenen Angebots spricht Reitz (Jahrgang 1932) vielen jüngeren Menschen aus der Branche aus dem Herzen. Aber in dieser Form wird die Trennung nicht ablaufen. Sie ist fürs Fernsehen unannehmbar. Vereinfacht gesagt: Die Sender sollen ihre Rechte verlieren, sollen aber weiter ungemindert Unterhalt zahlen. Von redaktioneller wie institutioneller Mitsprache sollen sie ausgeschlossen sein, über eine hochkomplizierte Umwegkonstruktion sollen die Millionen aus Gebührengeldern aber ungeschmälert weiter der Kinobranche zugutekommen. Dem Fernsehen bliebe demnach nur die Möglichkeit, sich aus einem großen Pool die fertig produzierten und bereits bezahlten Filme zu fischen. Das unterstellt stillschweigend, der Teich sei mit lauter fetten Exemplaren bestückt. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung spricht aber dafür, dass statt des einen Goldfischs viele magere Stichlinge an die Angel gehen werden. Gar keine Wahl zu treffen, das Investment nicht zu nutzen und das Geld abzuschreiben, verbietet sich in Zeiten stagnierender oder nur geringfügig steigender Rundfunkbeiträge ebenfalls. Gleichwohl sagt Julia von Heinz als Berichterstatterin der Arbeitsgruppe „Förderung und Finanzen“ in Frankfurt: „Wir haben den Eindruck, dass wir das Fernsehen dadurch auch entlasten.“ Aus diesem Satz spricht entweder Zynismus oder Naivität.

Abschied vom Fernsehen und Gremienfilm, aber die Schizophrenie des künstlerischen Films mit Wirtschaftseffekten bleibt

Ehrlicher und radikaler wäre das Eingeständnis des Fernsehens, dass es seine Rolle als Mäzen des Kinos ausgespielt hat. In seinen frühen Jahren hat das aufstrebende Medium Fernsehen Theater oder andere ältere Kultureinrichtungen unterstützt. Es hat eigene – wie der WDR – Kunstsammlungen angeschafft. Heute wird dem analogen Fernsehen, mit dem wir groß geworden sind, Antiquiertheit attestiert. Es muss sich im Netz gegen international operierende Streaming-Dienste behaupten und gleichzeitig als öffentlich-rechtliches Institut – anders als etwa Netflix oder Sky – seinem Anspruch auf ein Vollprogramm und Aktualität gerecht werden. Eine schwer lösbare Aufgabe, die die Konzentration aller Kräfte erfordert. Deshalb sollten ungeliebte Zwitter wie Kino-Koproduktionen der Vergangenheit angehören. Was nicht bedeuten soll, dass sich ARD und ZDF vollständig vom Kinofilm zurückziehen. Aber dann müsste es sich um vollständig mit Fernsehgeld bezahlte Produktionen handeln, die optional auf verschiedenen Distributionswegen öffentlich gemacht werden können. Was von der Möglichkeit eines Ankaufs von Lizenzware deutscher wie internationaler Provenienz natürlich nicht entbindet, aber das kann keine neue Quotierung oder sonstige Zwangsregimes bedeuten. Auch bei diesem Modell würden Kino und Fernsehen miteinander verbunden bleiben. Dazu ist beiden Medien die Narration als Grundelement viel zu tief eingeschrieben. Das Fernsehen würde sich mehr denn je dem seriellen epischen Erzählen öffnen – und danach würde es die Erfahrung machen, dass auch die Serie trotz immer neuer Varianten, Details und Nebenstränge an immanente Grenzen stößt und mit der Ermüdung des Zuschauers rechnen muss. Was dann neue Chancen für das klassische, fiktionale Einzelstück eröffnet.

Zurück zu den „Frankfurter Positionen“ und dessen zentralen Forderungen: In ihrem Reformradikalismus zu Lasten des Fernsehens als dem äußeren Feind waren sich die Kongressteilnehmer einig. Wenn es aber um die Frage der Verteilung der Subventionsmittel geht, schreibt das Papier den derzeitigen status quo zwischen dem „primär künstlerisch orientierten“ und dem kommerziellen Film fort. Die Fördersummen sollen fifty-fifty verteilt werden. Was quasi naturwüchsig sich ergeben hat, soll künftig institutionell verankert werden. Dieses Modell erscheint gerecht, ist es aber nicht. Bei den Kommerz-Filmen ist nach FFA-Statistik mit 15 bis 25 Projekten zu rechnen, um die andere Hälfte müssen sich die vielen anderen Projekte balgen. Zur Verdeutlichung: 2017 starteten 233 deutsche Filme in deutschen Kinos, 76 internationale Koproduktionen nicht mal eingerechnet.

Der laue Kompromiss überrascht nicht weiter, wenn man sich vor Augen hält, dass das Positionspapier sowohl von einem Alfred Holighaus (SPIO-Präsident) als auch einer Claudia Dillmann (ehemals Deutsches Filmmuseum Frankfurt) getragen werden musste. Da liegt es nahe, dass man vor radikalen Schritten auf diesem Feld zurückscheut. Statt also auch nur in Erwägung zu ziehen, die Barefoot- oder Ratpack-Film etc. in die freie Wildbahn des Markts zu entlassen, sollen Produzenten wie Till Schweiger und Christian Becker oder ein Verleiher wie Martin Moskowicz weiter 50 Prozent aus den verschiedensten Quellen der Filmförderung abgreifen dürfen. Es bleibt der Verdacht, dass sich die Filmbranche an die Rolle des ewigen Kostgängers so sehr gewöhnt hat, dass selbst ihre robustesten Exemplare in den ewig jungen, dabei aber uralten deutschen Genres Komödie und Kinderfilm glauben, nicht ohne öffentliche Alimente auskommen zu können. Was ihr umso leichter fällt, da kein Wettbewerbshüter, keine EU diese Praxis anprangert oder vor Gericht auf den Prüfstand stellt. Viele Firmen beherrschen die Kunst der „kreativen Buchführung“ und der Quersummen-Rechnungen mittlerweile so perfekt, dass die Fördergelder in der Praxis durchweg verlorene Zuschüsse sind.

Das Verhältnis zwischen Kommerz-Kino und künstlerischem Kino ist im deutschen System nicht von Kategorien wie gut und böse, wahr und falsch bestimmt. Beide brauchen einander, hängen untrennbar zusammen wie Zwillinge, die sich hassen und doch nicht ohne den anderen auskommen können. Das Kommerz-Kino trägt die gesetzlich erlaubte Kulturförderung wie ein Schutzschild vor sich her und kann dabei die eigenen, profanen Absichten verdecken. Die eingebaute Schizophrenie des Systems besteht nun darin, den künstlerischen Film zu fördern und gleichzeitig seine Wirtschaftlichkeit zu fordern. Ein Film wie Maren Ades „Toni Erdmann“, in dem die beiden scheinbar unversöhnlichen Sphären sich treffen, ist ein großer Glückstreffer. Er hält den Kinderglauben auf einen weltmarktfähigen deutschen Film auf Jahre wach. Allerdings hat es in diesem Fall sieben Jahre bis zur Realisierung gebraucht. Ein für alle Seiten unbefriedigender Zustand, der die „Positions“-Autoren zu sarkastischer Kritik bringt: „Die Finanzierung deutscher Kinofilme ist inzwischen komplexer als die Filme selbst.“ Zur Klage über den Gremienfilm muss die Klage über einen Hybrid namens Förderfilm mit „Wirtschaftseffekten“ treten.

Die Einführung von Kuratoren und die Gefahren neuer Machtstrukturen

Egal, über welche Etats und welche Stoffe die deutschen Filmförderungen künftig entscheiden, folgt man dem Frankfurter Papier in seiner Zielvorstellung, dann ist es mit dem Gremienfilm vorbei. Die bürokratisch-umständlichen Entscheidungen kollektiver Vergabeausschüsse oder einsamer Intendantenentschlüsse wäre Vergangenheit. Die „alleinige Entscheidungsgewalt“ über neue künstlerisch ambitionierte Projekte soll an einen Kurator, eine Kuratorin delegiert werden. Der Machttransfer erinnert ein wenig an die französische Revolution, wo das abgewirtschaftete Direktorium 1804 seine Befugnisse an einen auf Zeit gewählten Ersten Konsul namens Napoleon abtrat. Daraus entwickelte sich bekanntlich eine neue Diktatur und ein Kaiserreich. Eine Wiederholung dieser Verselbständigung von Macht ist in unseren demokratischen, medial-aufgeklärten Zeiten kaum zu erwarten. Eher fragt man sich, woher die Findungskommissionen geeignete Frauen und Männer nehmen will, welche Kriterien sie zu erfüllen haben und wie groß ihre Gefahr ist, in der drei oder vier Jahren ihrer Amtszeit zu den bestgehassten Menschen Film-Deutschlands zu werden. Mit der eingangs erwähnten Forderung nach Machtentflechtung im Fernsehen verträgt sich dieses Modell nur sehr bedingt. Hier weniger Macht auf für einige wenige, dort alle Macht an eine Person?

Mit dem Gremienfilm untrennbar verbunden ist die Intransparenz von Entscheidungen. Die Geschäftsführer der Förderinstitutionen spielen nach Vergabeausschuss-Sitzungen gern den Weihnachtsmann, der die frohe Botschaft eines positiven Bescheids den bittstellenden Produzenten aus erster Hand mitteilt. Umgekehrt hüllen sich die gleichen Frauen und die in diesem Job verbliebenen Männer in tiefes Schweigen, wenn es um Begründungen von Absagen von Projekten oder gar die Nichtbehandlung von Stoff-Vorschlägen geht. Eine Folge dieser fehlenden Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen sind Kaffeesatzleserei und ins Kraut schießende Gerüchte über das mutmaßliche Verhalten der einzelnen Gremienmitglieder. Nicht mal deren Namen wollen einige Förderungen preisgeben. Die „Frankfurter Positionen“ sprechen hier eine deutliche Sprache. Sie fordern ad hoc-Maßnahmen, die nicht an Kuratoren, Rechteagentur, Effekt-Tauschbörse und die Ummodelung der häufig föderal-speziellen Geschäftsgrundlagen gebunden sind: „Alle Gremienförderungen werden aufgefordert, ab sofort ihre Kriterien und die eigene Spruchpraxis offenzulegen. Es muss gewährleistet sein, dass die Gründe für die Ablehnungen der Anträge detailliert mitgeteilt werden. Das bisherige Spekulieren darüber ist unserer Meinung nach der Hauptgrund, dass sich schon in der Stoff- und Projektentwicklung vorauseilend der allgemeinen `Middle-of-the-road`-Entscheidungspraxis gebeugt wird.“ Das ist eigentlich eine Mimimalforderung, die jede gut organisierte TV-Filmredaktion mit begründeten Absageschreiben erfüllt, die sich aber mit dem Gutsherren/innenprinzip in der Führung manch deutscher Filmförderung nicht verträgt.

Chancen für alle, aber gleichzeitig herrscht der Wille, es allen recht machen zu wollen

Die „Frankfurter Positionen“ wollen aber keinem zu sehr auf die Füße treten. Man spricht sich nicht für irgendwelche Obergrenzen bei Filmproduktionen aus. Im Gegenteil: Auch Quereinsteiger/innen sollen neben den Absolventen klassischer Filmhochschulen Unterstützung bekommen. Nur sehr indirekt wird das Problem einer filmischen Überproduktion jenseits aller Marktkapazitäten und Subsistenzsicherung angesprochen. Dem Papier ist deutlich das Bestreben anzumerken, allen Ansprüchen gerecht zu werden, niemanden auszuschließen und jedem eine Chance auf Teilhabe zu bieten. Der Ausweg, auf den die Autoren verfallen sind, ist zumindest originell: „20 Prozent der für die künstlerisch orientierten Projekte zur Verfügung stehenden Produktionsmittel sollen unter den von den Kurator/innen nicht berücksichtigten Projekten verlost werden.“ Filmproduktion als Lotteriespiel. Das erinnert an Universitäten, die Studienplätze in N.C.-Fächern unter den vielen abgelehnten Bewerbers verlosen. Wer Film und den Zugang zum Filmstudium grundsätzlich offen halten will, muss wahrscheinlich zu solchen Krücken greifen.

Die Forderung nach mehr Diversität und mehr Chancen für weibliche Kreative wird am Schluss des Papiers auch noch erhoben. Ohne besonderen Nachdruck, wie der Verband Pro Quote Film murrend feststellen musste, der wie zur Wiedergutmachung die Idee einer eigenen Stiftung für den deutschen Frauenfilm entwickelt. Vielleicht hat diese nur kleine Akzentsetzung der Frankfurter Positionen aber auch damit zu tun, dass weite Teile des deutschen Films bereits jetzt weiblich dominiert sind. Keine einzige Film- und Medienförderung in Deutschland ist noch in männlicher Hand. In den neun ARD-Landesrundfunkanstalten gibt es sieben Fernsehspielchefinnen, nach Henkes Ausscheiden nur noch einen Mann. Im ZDF führt Heike Hempel die fiktionalen Geschicke, bei der Degeto ist es Christiane Strobl. In den einzelnen Redaktionen stellen die Frauen die überwältigende Mehrheit. Ein klassisch männliches Berufsbild hat sein Gesicht in kurzer Zeit dramatisch verändert. Sogar Checklisten für Drehbücher hat die Degeto eingeführt, um modern-gendergerechte Rollenbilder erzählen zu können. Nichts soll dem dummen Zufall oder alten Vorurteilen überlassen bleiben.

Film als neues Unterrichtsfach im Land der ewigen Lausbubenstreiche?

Wichtig war den Teilnehmern des zweitägigen Frankfurter Kongresses dafür eine geschlechterübergreifende Filmbildung der Nation. Eine Bildung, die möglichst frühzeitig in der Schule beginnen soll und Film als „eigenständiges Medium im Unterricht“ verankern soll. Diese Forderung klingt grundsympathisch, aber sie wird in der Umsetzung auf große Schwierigkeiten stoßen. In einer Zeit, da landauf, landab der Ruf nach schulkindlicher Fitness fürs digitale Zeitalter ertönt, wird eher die Forderung nach selbstständigem Computer-Programmieren umgesetzt, als dass ein neues Fach namens Film kommt.

Die Chancen auf ein staatliches Umdenken und Umerziehen mit engem Blick auf Film und Kino stehen also schlecht. Die Chancen liegen bei kleinen Initiativen. Engagierte Gruppen oder Kinobetreiber, die mit ihrem Angeboten die Augen öffnen und eine Vorstellung von Film und seiner reichhaltigen Geschichte geben. Diese große Vermittlungsleistung wird nur gelingen, wenn das gesellschaftliche Klima sich ändert. Weg vom bloßen Spaßfaktor und ironischem Geplänkel zu profundem Wissen und zwar in allen Bereichen des Schulunterrichts. Ganz in diesem Sinn argumentierte die Schriftstellerin Thea Dorn unlängst in einem Interview: „Der flache Egozentrismus unserer Gesellschaft hat auch damit zu tun, dass Leute keine Zusammenhänge mehr herstellen können.“

Wenn sich aber nichts ändert, wenn alles so weiter geht wie bisher, dann bleibt Deutschland – in Bezug auf Film – ewig das Land der harmlosen Lausbubenstreiche, der pubertären Schulkomödien und der verdeckt sadistischen Krimis. Auf die Provokation des Oberhausener Manifest von 1962 antwortete das deutsche Mainstreamkino mit leichter Verspätung auf seine eigene Weise. Es nahm die nie erloschene Glut der Rühmannschen „Feuerzangenbowle“ (1944) wieder auf und zog mit Filmen wie „Hurra die Schule brennt“ (1969) oder einer ganzen Litanei von „Schulmädchenreport“ (ab 1970), selbst mit einer Helmut-Käutner-Neuauflage der „Feuerzangenbowle“ (1970) den Kopf aus der finanziellen Schlinge. An der Kinokasse gekaufte Lebenszeit für den alten deutschen Film, vertane Zeit Mittel bei der Weiterentwicklung von Filmsprache und Inhalten. Über die Schule und das Schulmilieu kommt der deutsche Film, will er denn dauerhaft ein Millionenpublikum erreichen, offenbar nicht hinaus. Von „Fack ju Göhte“ bis „Fack ju Göhte 3“ sind bald fünf Jahre vergangen. Diese Schule des Lebens besteht in der ewigen Variation des gleichen Lernstoffs. Versetzung stark gefährdet. Der typische deutsche Zuschauer: Ein hoffnungsloser Sitzenbleiber?

Das Frankfurter Papier ist in Teilen unausgegoren, aber es hat den großen Vorzug, sich nicht mit dem unbefriedigenden Ist-Zustand abfinden zu wollen und an eine andere Art der Bilderproduktion zu denken. Es geht um Geschmacksbildung und über Geschmack kann man bekanntlich streiten. Aber gleichzeitig geht es um mehr: Es geht um Macht, um die Frage, wie Macht künftig verteilt und organisiert sein soll.

Michael André