BÜCHERBRIEF AN MARINA

liebe marina,

ich hab deine cd gehört, endlich, ich weiß: es war sommer, als du sie mir gegeben hast, jetzt ist es zwei jahreszeiten später. der so schöne satz aus einem film von john berger, daß alles so lange dauert, weil die sterne so weit weg sind: und wenn einer dann noch, wie im zweiten cd-titel, beginnt, „sich rückwärts zu drehen …“ wieso überhaupt zwei titel? unvereinbar dazu, allerdings wahr im hinblick auf eure sehr unterschiedlichen vorstellungen von lyrik. du setzt auf zergliederung und mechanik, die andere auf bilder und sinnlichkeit. nein, mechanik trifft es nicht, auch wenn sie teil der bewegung ist. man kann aus diesem auftrennen, zerteilen, neu zusammenfügen zumindest den versuch herauslesen, die sich zwischen den wortteilen abspielenden prozesse beim entstehen neuer sätze sichtbar zu machen. was immer das heißt. eher zerstörung als zusammenhang, und kein bezug zu der anderen art poesie auf der cd. getrennte gehege. und die musik stiftet nichts, ist weder verbindung schaffendes noch klar strukturierendes element: die stochernden töne: wie das herumhantieren an einer skala in der hoffnung, vielleicht doch noch die richtige einstellung hinzubekommen, mit der sich signale aus einer anderen wirklichkeit einfangen lassen. später, ich weiß nicht mehr, bei welchem eurer gedichte, das klavier: zufällig wie wind, der vereinzelt im gefrorenen schilf aufklirrt. und immer mal wieder zeilen, die aufleuchten und mir gefallen. trotz allem. doch das problem ist ein anderes, grundsätzliches: und das liegt bei mir. und hat mit lesungen zu tun, ganz generell: ich bin ungeeignet, anderen beim vortragen von literatur zuzuhören. ich mag die vorgabe anderer stimmen nicht, die immer schon interpretation ist, die immer etwas einschränkendes hat, die immer bestimmte möglichkeiten nahelegt und andere ausschließt: ich will, ganz besonders beim ersten mal, auf die geschriebenen worte selbst stoßen, in meinem tempo, in meinem rhythmus, allein. daß ich ausnahmen mache, bei gustafsson zum beispiel, hat auch damit zu tun, daß ich seine sätze im stillen schon intensiv zu mir genommen hab: dann ist es eine zusätzliche bereicherung, sie von ihm, der sie geschrieben hat, zu hören.
und von all dem mal abgesehen und wenn man den zahlen glaubt, geht es mit dem, was uns beide umtreibt, was wir unsere arbeit nennen, eh zu ende: literatur ist passé, von marginaler bedeutung war sie seit je: vor jahren und jahren (als die verlage noch das geld hatten, kleine bestechungsgeschenke an interessierte leser zu verteilen) gab es am f.a.z. – stand auf der buchmesse eine tasse, eine blaue dazu, mit einer werteskala: ganz oben, klar: politik, darunter wirtschaft, dann finanzmarkt (da war der kaffee schon halb getrunken), gefolgt von sport. unten dann, kläglicher rest: feuilleton. und am ende: leer. dieses lakonische leer unter dem wort feuilleton (das sie inzwischen nicht mal mehr aussprechen können). und jetzt hören die leute halt ganz auf zu lesen. sagen die feuilletonisten. sagen die buchhändler. sagen die umfragen. sagt alessandro baricco in seinem bemerkenswert undurchdachten buch „die barbaren“, wobei er diese beanstandung mehr als ahnt und ihr sofort in form einer vorbemerkung in den arm fällt: das zeug, sagt er, war anders konzipiert: als artikelserie über die „mutation der kultur“ für die „repubblica“ im jahr 2006, da halten längere reflexionen nur auf. spontanität wollte er damals, schnelles abenteuer. gleichzeitig allerdings verstehen: wer diejenigen sind, die er in ermangelung eines genaueren begriffs „barbaren“ nennt: was sie wollen, wie sie ticken, und warum sie darauf aus sind zu zerstören, was bislang als kultur galt. warum aber bringt einer seine schnellschuß-texte zu diesem thema ganze zwölf jahre später nochmal als buch heraus? ohne die rasante entwicklung, die seither stattgefunden und weitere zerstörung nach sich gezogen hat, in seine spekulationen miteinzubeziehen? wie auch immer: er versucht jedenfalls, der barbarei paar bessere aspekte abzugewinnen. er glaubt auch nicht an katastrophen. sagt er. also bleibt ihm kaum was andres, als sich in die eigene tasche zu lügen. heißt: er sieht ohne weiteres die zunehmende kommerzialisierung, die fortschreitende mittelmäßigkeit, die nivellierung der werte, holt dann jedoch zu einem großen „aber“ aus: es läuft darauf hinaus, daß durch die barbarei den massen zugute kommt, was einst einer kleinen elite vorbehalten war (baricco macht das am beispiel des weins klar). daß das auf kosten der qualität und des handwerks geht: was soll’s. „qualität ist eine leere kategorie“: hat auch der künstlerische(!) leiter der documenta 14 gesagt und entsprechend gehandelt: jetzt ist sie auf den hund gekommen (ob es zukünftig noch eine geben wird, ist fraglich). wenn qualität aber keine rolle mehr spielt, kann man getrost den quoten das wort reden und den coelho-fans und den 1 euro-shops. zeitenwende, sagt barrico dazu, epochaler umbruch, auch die aufklärung hatte ihre gegner: und heute feiern wir, was sie zur folge hatte, als errungenschaft. nee: nicht alle von uns. nicht die barbaren: die machen das gerade wieder platt. neue zeit, neues glück: und ein paar verlieren. diesmal eben die kulturschaffenden. und die arten: ja, die hat baricco vergessen. oder unterschlagen. welche der von ihm heraufbeschworenen und mit der neuen barbarei gleichgesetzten zeitenwenden der vergangenheit hat ein derartiges artensterben ausgelöst? eine derartige umweltzerstörung? aber wahrscheinlich hätte einer, der an katastrophen nicht glaubt, auch darin noch was goldenes entdeckt. so wie er an einer stelle die barbarei mit den prinzipien der demokratie gleichsetzt, an einer anderen befindet, daß ein „schlichtes hirn“ botschaften schneller weiterleitet als ein komplexes. baricco denkt halt kreuz und quer und unscharf und ähnelt darin den barbaren, von denen er sagt, „sie haben angst, ernsthaft zu denken“. was den „corriere della sera“, laut zitat auf dem buchumschlag, dazu gebracht hat, ihn für seinen „außergewöhnlichen scharfblick“ zu loben. sei es, wie es sei (hat mein onkel aus kornwestheim immer gesagt): das buch ist trotzdem wichtig, in ihm findet sich zumindest jede menge material für auseinandersetzungen. wie wär’s? am rande irgendeines geburtstagsfestes?
bis dahin. oder früher

ingrid

ach, noch was: beim hr haben sie, weil ihnen die hörer mal wieder davonrennen, erneut eine ihrer beliebten umfragen gemacht: auf was, wollten sie wissen, können die leute am ehesten verzichten. rate mal. genau: kultur. „das maß, in dem die menschen das interesse an der sprache verlieren, ist genau das maß, in dem sie die eigene menschlichkeit preisgeben. ein leben ohne poesie ist das leben, das ein monster führt“, sagt der kanadische dichter mark strand.

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© 2019 ingrid mylo


spiel von sinnen – als habe ein stern begonnen, sich rückwärts zu drehen
lyrik: marina d’oro / ursula teicher-maier

musikimprovisation: s. eresch / g. wörner / e. Yamada

cd projekt der kunstfabrik bhf2 2010

alessandro baricco: die barbaren
über die mutation der kultur (aus dem italienischen von annette kopetzki)

hoffmann und campe 2018

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