Großes Geschäft
Wenzel Storch kämpft sich durch die Schwemme neuer deutscher Kindheits- und Jugendromane. Dritter Teil

Was bisher geschah: Georg Klein trauert in Roman unserer Kindheit um „verflossene Zehen“ und „einstige Fersen“ und erhält dafür den Leipziger Buchpreis 2010. Hanns-Josef Ortheils stummer Held – ein autobiographisches, hochempfindliches Konstrukt – lernt in Die Erfindung des Lebens erst Klavier spielen, dann dichten und feiert am Ende Erfolge, die sich gewaschen haben.

Vor zweihundert Jahren hätte sowas – umständlich, aber schön – Meine Reisen durch die Höhlen des Unglücks und Gemächer des Jammers geheißen. Und damit weg von Hanns-Josef Ortheil und seiner Passionsgeschichte und hin zum dritten Buch, das ich mir als vorösterliche Buß- und Fastenlektüre auferlegt habe.

Dschingerle reloaded

Wolfgang Herrndorfs Tschick beginnt damit, daß die Höhlen des Unglücks und Gemächer des Jammers ihre Pforten schließen. Die großen Ferien brechen an und Maiks Eltern packen ihre Koffer. Die Mutter verschwindet auf eine geheimnisvolle Schönheitsfarm, den Vater zieht’s auf Geschäftsreise mit der jungen Assistentin.

Für den 14jährigen („Erst hieß ich Maik, dann Maiki, dann Maikipaiki“) öffnen sich die Tore des Paradieses. Kaum sind die Erziehungsberechtigten in einer Staubwolke verschwunden, steht ein Mongole vor der Tür. Der neue Mitschüler, dessen Vorfahren angeblich aus der Walachei stammen, lädt mit einem geklauten Auto zu einer Landpartie.

Für Momente hatte ich den Eindruck, auf dem Schutzumschlag hätte statt Tschick auch Dschingerle stehen können. Dschingerle: So nennt die Mutter ihren Sohn in „Nordsee ist Mordsee“, und ein Weilchen wollte sich das Gesicht des jungen Dschingis Bowakow zwischen mich und das Gelesene schieben. Dann verschwand der Spuk – denn Herrndorfs Tschick, der gar kein echter Mongole ist, sondern nur so aussieht, wird zwar wie Bohms braves Dschingerle von Mitschülern gepiesackt, versteht es aber, seinen Peinigern bald „den Stecker zu ziehen“.

Mit „Nordsee ist Mordsee“ hat Tschick so wenig zu tun wie mit, sagen wir, Klaus Lembkes „Rocker“ – auch hier fährt ein 14jähriger mit einer Krachlatte (wie man Typen wie Tschick einmal nannte) hinaus in die Welt. Es geht also nicht mit dem Floß die Elbe hinunter, das wäre schlecht für die Verfilmung, die bestimmt bald kommen und nicht halb so gut sein wird wie der Roman, sondern mit dem Lada in die Neuen Länder.

Ende einer Spritztour: Stilleben von Wenzel Storch

Wolfgang Herrndorf hat ein prima Urlaubsbuch geschrieben, rasant, sentimental und komisch – dabei ist Urlaub eine Sache, von der der Autor, wie er in einem Interview erzählt, gar nichts versteht. Auch daß ihm fast nie der Ton verrutscht, obwohl er seinen Ich-Erzähler in einem gewagten Slang parlieren läßt, ist verblüffend. Ob man Herrndorf deswegen in die Tradition Tiecks und Eichendorffs stellen muß, wie Gustav Seibt das in der „Süddeutschen Zeitung“ tat, weiß ich nicht – aber hier wird schöne Literatur wenigstens mit schöner Literatur verglichen.

Am Ende steht wie bei allen Feriengeschichten der Tag, an dem Maik wieder mit „harten, haarigen Schulmeisterpfoten“ (Wilhelm Raabe) nach vorne, an die Tafel gerufen wird (wobei das Schlußbild, in dem die Wohnungseinrichtung im Swimmingpool versinkt, mich an den Showdown in Kempowskis Hundstage erinnert). Und Tschick? Der wird zur Besserung in eine hohle Weide gesperrt. Ach nein, schade. Wir befinden uns ja in einem Roman von 2010: Er verwindet ganz unromantisch in einer Besserungsanstalt.

Bei Raabe heißen die Lehrkräfte Kollaborator Klopffleisch und Oberlehrer Knutmann: Illustration zu "Die Akten des Vogelsangs"

Fäkalischer Barock

Nicht jeder hats`s eben so gut wie Prinz Biribinker. „Er spuckte lauter Rosensyrop, er pißte lauter Pomeranzenblüthwasser, und seine Windeln enthielten die köstlichsten Sachen von der Welt“, berichtet Christoph Martin Wieland in seinem heiteren Roman Don Sylvio von Rosalva von einem jungen Mann, dessen Exkremente in Adelskreisen für Konfekt gelten. Auf der Suche nach seiner Traumfrau, einem Milchmädchen, befreit Biribinker die schöne Krystalline, eine in ein Nachtgeschirr verzauberte Nymphe, durch Anpissen: „Der Prinz fing an, es mit Pomeranzblüthwasser zu begießen, als er, o Wunder! das krystallene Gefäß verschwinden und an dessen Statt – eine junge Nymfe vor sich stehen sah.“ Es kommt, wie`s muß. „Die Nymfe lachte ihn freundlich an, und eh´ er sich noch aus seiner Bestürzung erhohlen konnte, sagte sie zu ihm: ´Willkommen Prinz Biribinker!´“

Womit wir bei Heinz Strunk wären, dem im März 2009 an dieser Stelle* Unrecht widerfuhr, indem sein Fleckenteufel – eine evangelische Zeltlagergeschichte – in fünf Sätzen abgetan und der Verfasser zum „Hechelscherzer“ herabgestuft wurde. Dabei ist Fritz Tietz` Befund, daß es sich um einen „vorrangig vom Stuhldrang des Autors“ diktierten Roman handle, nicht von der Hand zu weisen. Aber, um Strunk einmal gattungsgeschlechtlich einzusortieren: Der große Harburger darf als letzter und vielleicht bester Vertreter einer Richtung gelten, die man, mit einem alten Fachbegriff, als „fäkalischen Barock“ bezeichnet, ein Ausdruck, den Kurt Pinthus vor neunzig Jahren für gewisse Gedichte Johannes R. Bechers erfand.

Kleine Anregung für Spezialisten: Vielleicht sollte mal einer die Koinzidenz von Johannes R. Becher und William S. Burroughs untersuchen. Nicht nur die fast gleichschwingenden Töne der Taufnamen sind ja auffallend, auch hatten beide eine Schwäche für kleine Strolche und harte Drogen und schickten ihre Lebensgefährtin mit einer blauen Bohne in den Tod. Der eine 1910, der andre 41 Jahre später, was der Forschung ein weites Feld eröffnen dürfte, denn der Gedanke an Körperwandler und Revenanten stellt sich ein.

Bei der Gelegenheit könnte man gleich mituntersuchen, ob Anna Seghers – im Winter 1900 als Netty Reiling in Mainz geboren – vom Lederstrumpf abstammt. Denn Netty Reiling und Natty Bumppo – da dürften morphogenetische Felder im Spiele sein …

In der Puppenstube

Mag sein, daß der Fleckenteufel ein paar Fäkalwitze zu viel erzählt. Doch scheiß der Hund drauf. Wie käme ich dazu, mich ausgerechnet daran zu stoßen? Immerhin hat mich die Lektüre an alte Zeiten erinnert, an die schönen Jahre 1984/85, als ich – zusammen mit dem Komponisten Diet Schütte – an einer Filmarbeit saß, die den Arbeitstitel „Die Kackwurst in die Puppenstube“ trug. Und aus der am Ende nichts wurde, sowenig wie aus dem Sequel „Die Kackwurst in der Badeanstalt“.

Zoff bei der Christmette: „Wer hat den Kot auf die Kanzel gelegt?“ (Kalenderblatt von Wenzel Storch)

Meine Neigung zum Sonderbaren“, mit Peter Hacks zu sprechen, „verliert sich hier ins schlechthin Abartige“. Schauplatz sollte eine Puppenstube sein, die mein Vater mit viel Kunstverstand zusammengeleimt hatte und die sich, arg ramponiert und längst abgedeckt, noch immer in meinem Besitz befand. Der „Plot“ ging so: Nachdem sich nach dem Vorbild der Augsburger Puppenkiste ein Vorhang aufgetan hatte, sollte sich „der Körperteil, den man nicht nennt“ (Joseph Roth in Triumph der Schönheit) auf die Stube senken.

Aus der Froschperspektive sollte dann, mittels Einzelbildschaltung und unterlegt mit sanfter Musik, jene Verrichtung beobachtet werden, die die bürgerliche Gesellschaft „das große Geschäft“ nennt. Die zur Trompetenmusik ans Licht tretende Wurst sollte zum Helden unserer kleinen, nicht ganz stubenreinen Geschichte werden, sollte fernsehgucken, Chips essen und alle naselang das stille Örtchen besuchen. Damit der Darsteller uns nicht unter den Fingern zerging und den Drehort beschmutzte, hatten wir eine Dose Klarlack gekauft. Nun mußte nur noch einer von uns die Hosen herunterlassen und auf der Puppenstube Platz nehmen.

Deutscher Feierabend: Filzstiftidyll von Wenzel Storch, 1986

Etwa hier haben wir das Projekt dann abgebrochen. Schön dumm, denn heute weiß ich, daß Werkchen wie diese bei gewissen Sendern als sozialkritisch durchgehen. Wir hätten die Sache bloß in Richtung Literaturverfilmung trimmen und umtaufen müssen. Zum Beispiel, nach einem antiken Schwulstroman, in Leben und Thaten des edeln Herrn Kix von Kaxburg.

* vgl. „konkret“ 3/2009 : Fritz Tietz, „Schluß mit lustig!“

Autor: Wenzel Storch

Text: veröffentlicht in konkret 6/2011

FORTSETZUNG FOLGT:

Im Würgegriff der Diabolie: Gerhard Henschels Liebesroman und Christian Y. Schmidts Zum ersten Mal tot