Schön und sehr weit droben

Ein wunderschönes Kunst-Stückchen

Dieses Lied beginnt immer gut. „The Minute you walked in the joint….“ Eine Frau hämmert einem Mann erbarmungslos das Bewußtsein ihrer sexuellen Souveränität entgegen: „Hey Big Spender“. Und es ist, als würde der Rhythmus ihn an die Wand treiben. Ein Song für eine starke Frau, ein Song für Shirley Bassey. Er beginnt immer gut, aber so begann er noch nie.

„Die Show aller Shows“ schreit Mr. Boo, der Impresario, der sonst die Gruppe „Take fat“ auf seiner Schmiere zu beschäftigen pflegt, und den Mann mit der Parkinsonschen Krankheit, der ist Messerwerfer. Und jetzt läßt Mr. Boo den Goldenen Vorhang öffnen. Vorsichtig, ängstlich, wie suchend tritt eine junge Frau dahinter aus dem Goldenen Vogelkäfig. Tastend geht sie wenige Schritte auf die Bühne, sie trippelt wie eine Blinde am Time Square. Als warte sie ängstlich, die große Straße zu überqueren, allein mit der Dunkelheit und der Gefahr. Doch sie ist ein tapferes Mädchen und sie geht los. Nicht langsam, nicht suchend: Sie springt aus dem Stand zwischen die jagenden Autos und sie springt atemberaubend, als wüßte sie, daß ringsum alles zum Stehen kommen wird. Und sie hämmert ihnen den Rhythmus ins Gesicht: „The Minute you walked in the joint…“. Es ist aber nicht Shirley Bassey. Es ist überhaupt niemand. Das Märchen des Engländers Mark Herman (Buch und Regie, nach einem Theaterstück) ist um dieser einen Szene willen erzählt, und es ist gewiß eine der schönsten der Saison. Es ist das Aschenputtel, das aber nicht Königin werden will, wiewohl sie es könnte. Einmal tanzt sie auf dem großen Ball, dann geht sie mit dem Stallburschen, der die Tauben hütet, in die Welt. Oder dorthin, woher sie vermutlich kommt, „Somwhere over the rainbow“. Laura, die alle nur LV, Little Voice nennen, weil sie so gut wie nicht spricht, und wenn, dann mit einer exzessiv piepsenden Stimme, am Rande der Debilität. LV hat eine blöde alte Schlampe zur Mutter und eine traurige Erinnerung zum Vater. Sie kuschelt sich, in der verschlissenen, vergammelten Wohnung, angefüllt von verschimmelten Nahrungsmitteln und den schrillen, endlosen Wortkaskaden der dummen Kuh, die ihre Mutter ist, an Daddy. An seine Plattensammlung, in der er ihr lebt. Und sie singt die Songs von Marilyn, von Shirley und Judy. Meistens singt sie nur mit dem Herzen, aber manchmal geht es nicht anders, da wehrt sie sich mit der Stimme, die ihr Geborgenheit gibt. Ray kommt zu Mom, der alte, abgewrackte Showagent, so abgewrackt, daß er es sogar mit der Mutter treibt. Dann singt LV und Ray läßt die alte blöde Schachtel liegen. Und überredet LV, auf die Bühne zu gehen. Für Daddy. Für Daddy, sagt sie, einmal nur. Sie tut es wirklich nur einmal und sie wird Daddy sehen im Konzert, wie wir, schwarz-weiß. Und weil sie zum zweiten Auftritt nicht mehr erscheint, wird der alte Messerwerfer, der an der Parkinsonschen Krankheit leidet und dem sie die Augen verbunden haben, seine Partnerin, deren Daddy wohl schon am Little Big Horn dabei war, fragen „Bist du noch da?“ehe er das Messer wirft. Und sehr hastig wird Mr. Boo „Vorhang!“ rufen, denn die Leute sind gekommen, weil sie LV sehen wollen, nicht Blut. Das ist ein sehr schöner Film und ein sehr merkwürdiger dazu. Denn seine vorzügliche Hauptdarstellerin Jane Horrocks, die diese eine, sehr berührende Szene hat, spielt eine im Grunde weithin blasse Figur, während das fiese, schmierige Paar, Brenda Blethyn und Michael Caine, explodiert vor darstellerischer Vitalität. Ohne das Mädchen, ein ängstlicher Alien in dieser fremden Welt, wäre das eine der vielen britischen working-class-Komödien. Mit einer deutlichen bis aufdringlichen Metaphorik aber stemmen Mark Herman und Jane Horrocks das Märchen hinauf auf die Ebene eines wunderbaren Kunst-Stückchens, bis zu seinem exorbitanten Höhepunkt.

LV ist wie eine der Brieftauben, die der junge Elektriker, den die Geschichte ihr gönnt, so ausschließlich liebt, wie sie die alten Platten liebt. Wenn das Mädchen die alten Lieder singt, dann ist sie weder Laura noch Judy Garland: Sie ist wie eine Brieftaube, die eine fremde Botschaft trägt. Sehr schön und sehr weit droben, dort, wo die Dinge aufhören, uns wirklich anzugehen. Jane Horrocks ist wie eine Folie, eine Leinwand, die erst zu leben beginnt, wenn die fremden für die Projektionen sie erleuchten. Die Töne, die Bewegungen der großen Frauen ergreifen von ihr Besitz wie von einem Medium, wie in einem rituellen magischen Akt, der nichts mit ihr zu tun hat. Es ist, wie es Millionen Menschen ergeht, die in sich die großen Lieder dieser Welt hören, wenn sie in der Stimmung sind, die sicher wären, ein wunderbarer Sänger zu sein, weil sie die Lieder fühlen, nur, daß ihnen die Stimme dazu fehlt. Und nun wird sie einem solchen Menschen geschenkt für Minuten und die Haltung, die Show dazu. Irgend jemand hat einmal die Frage gestellt, ob Michelangelo ein weniger bedeutender Künstler wäre, wenn er ohne Hände zur Welt gekommen wäre. Der Film gibt einem solchen Menschen die Hände, die Stimme. Ein unerklärliches Wunder, über das nichts zu erzählen ist, außer: es findet statt.

Mehr zu erzählen ist über die Mutter und den Agenten. „Ich hab ein paar Titten und immer den richtigen Spruch drauf“, sagt Mari, das stimmt. „Du hängst an einem, sagt Ray, „wie ein verfluchter Pickel am Arsch.“, das stimmt auch. Die beiden Schauspieler sind hinreißend, wie sie ihre schmierigen Figuren laufen lassen und ihnen dennoch einen Rest vom Menschen bewahren. Am Ende, er hat verloren, singt Michael Caine „It’s over“. Und beinahe tut er uns leid.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 1998

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine