Nichts ist sicher, alles ist im Fluss
Duncan Jones aufregender Sciene-Fiction-Thriller passt in keine der gängigen Genre-Schubladen

Ein Traum, ein böser Traum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Für den US-Hubschrauberpiloten Colter Stevens, einen verdienten Afghanistan-Kämpfer, dauert die Fahrt in einem Pendlerzug nach Chicago exakt acht Minuten. Dann ist alles vorbei. Eine gewaltige Explosion, eine riesige Rauchsäule am Himmel. Der Zug ist das Ziel eines heimtückischen  Bombenanschlags geworden und keiner der Passagiere in Duncan Jones’ Thriller Source Code soll überlebt haben. Doch diese Endgültigkeit des Geschehens ist nur eine der vielen intelligenten Täuschungen, denen der Zuschauer in diesem amerikanisch-kanadischen Film ausgesetzt wird.

Wenn sich der lindwurmartige Doppelstockzug in der Suburbia Chicagos von Station zu Station der Metropole – und damit seinem Untergang –  nähert, dann geht ein Film zu Ende und ein neuer beginnt. An die Stelle eines klassisch psychologischen Thrillers über einen Mann mit mysteriösem Gedächtnisverlust tritt ein politischer Katastrophenfilm. Ein Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, ist durch diesen Terroranschlag in seinen ohnehin morschen Grundfesten erschüttert. Verzweifelt  versuchen Geheimdienstler, Militärs und Wissenschaftler, den inneren Feind aufzuspüren und zu liquidieren. Dabei bedienen sie sich – durchaus genrekonform – revolutionärer, in diesem Fall neuro-medizinischer Methoden.

Die Pointe der Eröffnungssequenz von Source Code besteht in folgendem Umstand: Was der Film zeigt, ist gar nicht der originale Anschlag. Vielmehr handelt es sich um eine Rekonstruktion und der Passagier Colter (Jake Gyllenhaal) ist nachträglich in ein Abteil dieses Zugs geraten. Er teilt das verknitterte Aussehen und die Identität mit dem Lehrer Sean, einem der Toten des Zug-Attentats, doch sein Hirn ist ein anderes und seine ungeduldige Erwartung ist, zum nächsten Kampfeinsatz nach Afghanistan geschickt zu werden. Eine Selbst-Täuschung auch dies. In Wahrheit, wie sich bald herausstellt und wie es quälend langsam Colter bewusst wird, ist er ein Untoter, der eine letzte Mission im Dienst der Army – und damit der Nation – erfüllen soll. Hier wird das Erzählmodell von Matrix weitergesponnen und  Bill Murray in Und ewig grüsst das Murmeltier lässt als großes Zeitschlaufen-Vorbild grüßen. Mit dem auffallenden Unterschied, dass es bei Jones deutlich weniger humorig und ironisch zugeht. Die Zeiten sind härter geworden und zugleich steht mehr auf dem Spiel.

Der Captain und seine Maschine sind bei einem Feindeinsatz bereits zwei Monate zuvor abgeschossen worden. Was von dem jungen, ehrgeizigen Offizier übrig blieb, ist ein Körpertorso und ein funktionstüchtiges Hirn. Eine Kommandozentrale mit dem beziehungsreichen Titel „Beleaguered Castle“ hat Colter ausgewählt, die Bombe und den Bombenleger ausfindig zu machen. Um dieses Unternehmen zum Erfolg werden zu lassen, wird der reanimierte Colter an den Ort des Geschehens geschickt. Er steckt in einer Zeitmaschine, er ist das Objekt eines Experiments mit dem Namen „Source Code“, von dem sich die Sicherheitskräfte wahre Wunderdinge zur Bekämpfung des Terrorismus erhoffen. Der Film funktioniert hier wie ein Videospiel, bei dem man nach Scheitern immer wieder auf Anfang gehen kann. Wobei Jones und sein Drehbuchautor zusätzlichen Thrill in die Handlung bringen, wenn sie den nächsten verheerenden Anschlag mit einer „schmutzigen Bombe“ als unmittelbar bevorstehende Bedrohung ins Spiel bringen. Die Uhr tickt. Wer da ausgeschaltet werden soll, entpuppt sich als ein junger, harmlos ausschauender  Einzelgänger, der in seinem Fanatismus und Weltrettungsphantasien  Ähnlichkeit mit dem „Unabomber“ Ted Kaczynski aufweist.

Wohl ein halbes Dutzend Mal wird Colter aus seinem an eine Raumkapsel erinnerndes Verlies in den Zug gebeamt. Es spricht für das inszenatorische Geschick von Duncan Jones  – sein viel beachteter Erstling war Moon –, dass diese Wiederkehr des Immergleichen niemals langweilig-bekannt wirkt. Über die einzelnen Versuche, dem Täter und dem Tatwerkzeug auf die Spur zu kommen, nimmt die Handlung jedes Mal neue Dynamik auf. Wir erleben, wie ein Amateur zum Profi wird, wie aus einem scheuen Literatur-Professor  ein zu allem entschlossener Fahnder, und zur Freude  seiner Zugabteil-Nachbarin (Michelle Monaghan) aus dem ihr als ewigen Zauderer bekannten Sean (quasi über Nacht) ein bekennender Liebhaber wird. Parallel dazu werden die einzelnen Bilder immer kürzer, vollführt der Schnitt immer tollkühnere Montagen.

Source Code lässt sich nicht umstandslos in eine der bekannten Genre-Schubladen stecken. Er ist ein Katastrophenfilm, er ist ein Persönlichkeitsdrama, er ist Science Fiction, er ist zu guter Letzt auch ein Liebesfilm, der auf eine sehr eigene Art unser Bedürfnis nach einem Happyend befriedigt. Das stimmt alles, und trotzdem geht der Film in keiner dieser Definitionen auf.

Duncan Jones, Sohn von David Bowie, gelingt in Source Code das Kunststück, die Kälte eines Science Fiction Films, der primär an technischen Erfindungen und deren präziser Anwendung interessiert ist, mit der Wärme eines alltäglichen, zwischenmenschlichen Dramas zu verbinden. Colter läuft dem Erfinder des Source Code, einem ehrgeizigen militäraffinen Wissenschaftler, schon frühzeitig leicht aus dem Ruder. Er ist nicht allein an der Aufklärung des Bombenanschlags interessiert. Er ist trotz anfänglicher Fehlschläge stolz darauf, wenigstens zwei Menschen aus dem Zug gerettet zu haben, als er sie auf einem Unterwegs-Bahnhof absetzte. Colter lässt sich in dieser Rettungsmission auch nicht durch den stocknüchternen Hinweis seiner Auftraggeber abschrecken, die darauf hinweisen, dass alle seine Acht-Minuten-Fahrten virtuell und alle Passagiere mausetot sind. Colter geht seinen Weg weiter, er betreibt posthum die Aussöhnung mit seinem Vater und betreibt die Verhinderung des Zug-Attentats, als er den Bombenbastler im Zug ankettet und die Polizei zu Hilfe ruft. Untote – so beweist sich wieder einmal – sterben nicht. Sie lassen sich auch nicht einfach abschalten nach getaner Arbeit. Stattdessen entwickelt Colter eigenen Willen und eigene Sehnsüchte. Das Objekt wird wieder zum Subjekt. Das ist weit mehr, als die militärischen Schöpfer ihrer künstlichen Kreatur zugetraut haben.

Spätestens in diesem Moment verlässt Jones die ausgetrampelten Pfade von Logik und Berechenbarkeit innerhalb des Genres Science Fiction. Seine Narration gerät in einen Schwebezustand. Der Film passt zu einer Postmoderne, in der wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mehr in jedem Fall als unverbrüchlich gelten können. Der Mensch dieser Zeit – siehe Colter Stevens – erscheint nicht mehr als unvergängliches Unikat, sondern als Körper, der von einer modernen Hochleistungsmedizin mit Ersatzteilen repariert, optimiert oder gar in den Körper eines Fremden verfrachtet wird.

Herkömmliche psychologische Logik muss an diesem Film verzweifeln oder macht verständnislos einen Bogen um Source Code. Das konventionelle Erklärmodell versagt bei einem Film, der im Finale nur noch aus einer Montage der Attraktionen und Sensationen besteht. Für diesen instabilen Zustand von Mensch-Sein liefert der Drehort Chicago dem Film in einem seiner Schlussbilder eine schlüssige Metapher. Da nähern sich Colter und seine Freundin der berühmten Skulptur „Cloud Gate“ und mit jedem Schritt und jeder Bewegung widerspiegeln sich die beiden in neuer Form und Gestalt im Kunstwerk von Anish Kapoor. Nichts ist sicher, alles ist im Fluss.

Text: Michael Andrè

Bilder: Kinowelt