Regisseur Andreas Dresen ist vor allem für launige Spielfilme über so genannte „Kleine Leute“ berühmt. Bekannte Titel: „Halbe Treppe“, „Sommer vorm Balkon“, „Whisky mit Wodka“. Prägend dabei sind seine Lust, die Schauspieler improvisieren zu lassen, und ein oft melancholischer Grundton der Erzählungen. Für seinen neuen Spielfilm gab es im Mai beim Internationalen Filmfestival in Cannes gemeinsam mit einem koreanischen Beitrag den Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“. Im Zentrum von Dresens Film steht das langsame Dahinsiechen eines Familienvaters. Ein hartes Thema. Soll man sich dem aussetzen?

Ich meine: ja! – Der Film tut weh, geht einem unter die Haut. Aber: Er behandelt das schwierige Thema des Sterbens nicht als reißerische Show. Anders als in sentimentalen Hollywood-Produktionen, wie „Lovestory“ oder „Zeit der Zärtlichkeit“, wird nie auf die Tränendrüsen gedrückt. Der Ton der Erzählung ist durchweg lakonisch, pointiert, unangestrengt, wird gelegentlich sogar von Witz geprägt. Vieles wurde offenkundig beim Drehen improvisiert. Das sorgt für Wahrhaftigkeit. Und, wie schon mehrfach bei Dresen, spielen Laien. Da ist zum Beispiel der Arzt, der Frank (Milan Peschel) und seiner Frau (Steffi Kühnert) die Diagnose, inoperabler Hirntumor, mitteilen muss. Die Hilflosigkeit des Mediziners und des Patienten sowie seiner Frau hat nichts Gestelztes. Szenen wie diese dürften sich im wahren Leben zumindest sehr ähnlich abspielen. Man hält den Atem an.

Der Film ist überwiegend in einem leisen, zurückhaltenden Ton gehalten. Das macht es besonders hart. Zusammen mit dem Mittvierziger Frank, seiner Frau, den zwei halbwüchsigen Kindern, den Verwandten und Freunden erleben wir als Zuschauer so den Prozess des erzwungenen Abschiednehmens. Großartig dabei: Dresen, seine Drehbuchmitautorin Cookie Ziesche und die durchweg großartigen Schauspieler beugen sich in keinem Moment tröstlichen Lügen. Der Schrecken, den das Wissen um den unausweichlich nahenden Tod auslöst, wird nicht einmal verniedlicht. Doch es wird eine Möglichkeit des Umgangs damit gezeigt: Dadurch, dass sich Frank und die anderen dem Furchtbaren stellen, können Sie es aushalten, und sie können das Leben wirklich bis zum letzten Moment annehmen.

Ein Einfall hat mich zunächst irritiert: Frank personifiziert seinen Hirntumor mittels Videotagebuch im iPhone. Der Krebs tritt als Person sogar im Fernsehen auf. Für Frank macht das den tödlichen Feind nicht zum Freund, doch berechenbar. Dem Publikum schenken diese skurrilen Szenen die Möglichkeit, Luft zu holen, innezuhalten, nachzudenken und dem Geschehen ohne ein Abrutschen ins Weinerliche bis zum Schluss zu folgen.

Im Nachhinein wurde für mich klar: Dies ist gar kein  Film über das Sterben. Es ist ein Film über das Leben. Dresen und seine Mitstreiter denken nach über die Suche nach dem richtigen Weg durch einen unberechenbaren Alltag. Bei allem Grauen, das damit verbunden ist, gibt das dem Einzelnen viele Anregungen zum Nachdenken über sich selbst.

Peter Claus

Halt auf freier Strecke, von Andreas Dresen (Deutschland 2011)

Bilder: Pandora