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Bertolucci kann’s noch immer: Mit scheinbar nichts löst er enorme Emotionen aus. Der italienische Regiestar (Der letzte Tango in Paris/ 1900/ Der letzte Kaiser/ Die Träumer) versteht es nach wie vor, dem Kino schönste Träume zu schenken, Träume, die der Realität einen kritischen Spiegel vorhalten.

Im Zentrum der Geschichte steht der halbwüchsige Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori). Er ist ein Einzelgänger. Bei einer günstigen Gelegenheit, entzieht er sich seiner Umwelt und richtet sich in einem Versteck ein. Er will nur Ruhe haben, für ein paar Tage, mehr nicht. Doch daraus wird nichts. Denn seine ältere Halbschwester Olivia (Tea Falco) taucht auf. Sie ist ein Garant für Unruhe, und das nicht nur, weil sie schwer drogensüchtig ist. Lorenzo würde ihr gern helfen. Doch ich_320wie? Auf der Suche nach Möglichkeiten dazu, kommen sich die Beiden sehr nah. Sie kommen sich so nah, dass sie ins Paradies gelangen oder in der Hölle stranden könnten…

Wie vor vierzig Jahren in „Der letzte Tango in Paris“ treffen eine Frau und ein Mann mit geradezu gewalttätiger Wucht in engstem Raum aufeinander, reiben sich aneinander und finden zu sich selbst oder eben genau das nicht. Die Spannung des Films erwächst daraus, dass der 73-jährige Bertolucci erst gar nicht so tut, als filme er pure Wirklichkeit ab. Von Anfang an ist klar: die Story ist ein Konstrukt, die Charaktere sind ausgedacht. Doch das, worum es geht, ist handfest und alltäglich: sich selbst dazu zu bringen, alle Kräfte zu mobilisieren, um die eigene Individualität zu wahren.

Jacopo Olmo Antinori und Tea Falco gestalten die Protagonisten mit Lust an Brüchen, an Ecken und Kanten. Sie zeigen keine lieben Schäfchen. Sie zeigen Wölfe. Das ist zunächst irritierend, weil man die Zwei als Zuschauer erst einmal so gar nicht mag. Doch je länger man mit ihnen ist, umso näher kommen einem die Beiden – und das Geschwisterdrama lässt einen plötzlich über sich selbst nachdenken, darüber, ob man wirklich immer mutig genug ist, zu sich selbst zu stehen.

Peter Claus

Ich und Du, von Bernardo Bertolucci (Italien 2012)

Bilder: Kool