Existenzialismus oder wer schläft mit wem

Detailreich und mit großer Lust an biographischen Anekdoten erzählt Agnès Poirier von Sartre, Beauvoir, Camus & Co und den 40er Jahren in Paris

„Fröstelnd las Koestler Merleau-Pontys Replik fertig. Der uralte Ölofen in seinem Arbeitszimmer versagte wieder einmal seinen Dienst. Koestler stand auf und schenkte sich noch einen Arak ein (die Flasche, die er in einem kleinen Eichenschrank aufbewahrte, stammte noch von seiner letzten Reise nach Palästina). Er war sich sicher, Camus würde sich erneut zu seiner Verteidigung aufschwingen.“

Die drei erwähnten Geistesheroen sind längst gestorben, Ort des Geschehens war irgendein feuchtes Cottage in Wales, und seit dem Erscheinen dieser Ausgabe von „Les Temps Modernes“ sind über 70 Jahre vergangen. Doch Autorin Agnès Poirier lässt sich weder von großen Namen noch von historischer Distanz schrecken. Im Gegenteil. Beides stachelt ihre Fabulierlust nur noch an. Ihr Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen Fleiß- und Wühlarbeit in Archiven, Tagebüchern, Briefen, Memoiren und eigenen Interviews; in Form gebracht mit Mitteln und in Diktion der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts. Der Reportagestil mit seiner Lust auf Details samt dem Fetisch der Unmittelbarkeit feiert fragwürdige Triumphe in ihrem jüngst veröffentlichten Buch „An den Ufern der Seine“.

Dabei ist der deutsche Titel missverständlich. Der in London lebenden französischen Autorin geht es natürlich nicht um urbanistische Planspiele, wie aus der verpesteten Automeile eine verkehrsberuhigte Flaniermeile werden kann. Poiriers Thema sind „die magischen Jahre von Paris von 1940 bis 1950“. Ihr Interesse gilt den Existenzialisten des Rive Gauche (so lautet übrigens der englische Originaltitel). Menschen – allen voran das Hohe Paar Sartre und Beauvoir und der Schriftsteller Albert Camus als Dritter im Bund – die für ein neues Lebensgefühl von Menschen stehen. Menschen, die der Katastrophe des Weltkriegs eben noch entronnen sind, die sich in einer Welt des beginnenden Kalten Kriegs wiederfinden und trotzdem ihren eigenen Weg gehen wollen. Im theoretischen Denken wie im politischen Handeln, Gleichberechtigung der Geschlechter inklusive. Poirier zitiert als Beleg den Historiker Tony Judt, der der Ansicht ist, dass die „Stimme von Paris seit Napoleons Zeiten nie wieder ein solches Gewicht“ gehabt habe wie in den späten 40er Jahren.

„Magische Jahre“, der Begriff ist unter Vorbehalt zu sehen. Denn die 40er Jahre stehen zunächst einmal für deutsche Fremdherrschaft im besetzten und geteilten Frankreich, für Verfolgung und Deportation von Juden, für Zwangsarbeit in den Fabriken im Deutschen Reich, aber auch für Kollaboration. Ein Faktor, der bei Poirier grob unterschätzt wird. Stattdessen pflegt sie den ungebrochenen Mythos einer immer wachen Resistance, ganz so als habe sich Pétain nicht einer anfänglich großen Beliebtheit erfreut, wogegen de Gaulle als Querulant erschien.

Die ökonomische Not verging nicht schlagartig mit der Befreiung von Paris 1944. Das Regime der Zwangsbewirtschaftung dauerte weit über das Kriegsende hinaus an. Erst zu Weihnachten 1949 kehrte so etwas wie Vorkriegsnormalität wieder ein. Die Pariser fanden zu ihrem alten Lebensrhythmus zurück, aber aus der politischen Dauerkrise war man deswegen noch lange nicht. Leicht zynisch gesprochen lässt sich aber festhalten, dass mit der Normalisierung des Alltags auch die heroischen Tage des Existentialismus vorbei waren. Mehr der Not als innerer Überzeugung gehorchend gibt Sartre die Idee eines eigenständigen Dritten Wegs auf und wird in den frühen 50er Jahren zu einem Weggefährten der Kommunisten. Eine Annäherung, die gleichzeitig den Bruch mit Camus bedeutet. Erst der Ungarn-Aufstand von 1956 bringt das Ende dieser Liaison. Da hatte der Existenzialismus aber sein Flair von Freiheit, die ein ewiges Versprechen sein soll, verloren. Neue philosophische Strömungen wie Strukturalismus und Sprachtheorie finden Zulauf und Gehör. Vom Existenzialismus bleibt nicht viel mehr als die Farbe Schwarz, deren unsterbliches Emblem das Kostüm der Chansonnière Juliette Gréco wird.

Gleichwohl geht von den frühen 40er Jahren ein Reiz aus. Sartre hat selbst in schöner Dialektik im September 1944 dieses Dilemma beschrieben: „Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung“. Der Freiheit des Einzelnen waren durch deutsche Zensur Grenzen gesetzt. Es gab bestimmte Codes und Grenzen, die nicht überschritten werden durften. Gleichzeitig konnten aber Romane wie Sartres „Der Ekel“ oder „Der Fremde“ von Camus erscheinen. Beide Autoren waren im Widerstand aktiv, aber auch hier waren sie mehr oder minder Befehlsempfänger, waren für ihre Entscheidungen nur sehr bedingt verantwortlich. Mit der Befreiung Frankreichs kehrten neben der persönlichen Freiheit auch die schwierigen Fragen nach der Verantwortung und den Konsequenzen des eigenen Handelns zurück.

All diese weitergehenden Fragen beschäftigen Agnes Poirier nicht oder nur sehr peripher. Was sie interessiert, sind eher lebenspraktische Dinge. Wer ging mit wem, wer betrog seine Frau oder Freundin, wer verabscheute wen, wer schluckte welche Drogen, wer hat wen auf dem Gewissen? Um die letzte Frage zu beantworten und gleichzeitig auf den Anfang dieses Textes zurückzukommen: Maurice Merleau-Ponty, der Mann der über mehrere Ausgaben hinweg in „Les Temps Modernes“ Arthur Koestler und seinen schon damals berühmten Roman „Sonnenfinsternis“ in Grund und Boden kritisierte, hatte Poirier zufolge ganz eigennützige Motive für seine Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Renegaten Koestler. Beide liebten sie die gleiche Frau. Sonia Brownell, Muse verschiedener berühmter Männer, fühlte sich von Koestler schlecht behandelt. Merleau-Ponty hatte sie anvertraut, der Exil-Ungarn sei ein „Sadist“; der Mann habe sie überdies gezwungen abzutreiben. Eine philosophisch-politische Auseinandersetzung über Kommunismus und Terror schnurrt auf diese Weise zur Schilderung einer privaten Rache- und Wiedergutmachungsaktion zusammen.

Ein schönes Beispiel für Poiriers anekdotisches Schreiben liefert der deutsche Philosoph Martin Heidegger. Poirier erzählt von einem Besuch französischer Journalisten der Résistance-Zeitung Combat unmittelbar nach Kriegsende im Schwarzwald. Als Ergebnis ihres Interviews wird der selbst für Heidegger reichlich kryptische Satz zitiert: „Die Atombombe ist die logische Konsequenz von Descartes.“ Das war’s. Sonst findet die Seinsphilosophie mit keinem Wort Eingang in dieses Buch über Existenzialismus. Dabei ist Sartres Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ von 1943 ohne seine Heidegger-Rezeption nicht vorstellbar, wie überhaupt die französische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne ihre eigenwillige Verarbeitung dieser deutschen Denkschule undenkbar wäre.

Poirier neigt zu dichotomischen Gegenüberstellungen in Gut und Böse: Für die Nachkriegszeit erfüllen die Kommunisten die Rolle des Büttels. Moskauhörige Kultur-Apparatschiks wie Louis Aragon, die ideologische Abweichler unnachgiebig verfolgen und von der Machtübernahme träumen. Sei es auf friedlichem Weg einer Volksabstimmung oder durch eine Serie von Generalstreiks. Dagegen erscheinen die französischen Konservativen wie Schattenexistenzen, als Menschen ohne jedes Profil, sieht man mal von skizzenhaften Umrissen bei General de Gaulle oder Chefpropagandist André Malraux ab. Die Sozialisten als nominell dritte Kraft, die in ihren verschiedenen politischen Auffächerungen die Mehrzahl der Premierminister der Vierten Republik stellten, sind sogar völlige Leerstellen. Auf die politische Bühne zurückgekehrte Männer wie Léon Blum oder Edouard Herriot stehen eher für fatale Vorkriegskontinuität denn für Aufbruch. Was an Lichtgestalten bleibt, sind die Existenzialisten vom Rive Gauche. Aber denen wird ihre heterogene Zusammensetzung zum Verhängnis. Sie zerstreuen sich oder brechen zu neuen Ufern auf.

Was bleibt noch? Die amerikanischen Freunde und ihre ausführlich geschilderten Biographien. Künstler wie die Schriftsteller Norman Mailer und Richard Wright, der Jazztrompeter Miles Davis, die in Paris eine zweite Heimat und Ruhm fanden. Auf der anderen Seite aber auch Machtpolitiker wie US-Präsident Truman und sein Außenminister George Marshall, die aus Angst vor kommunistischer Herrschaft in Europa ein milliardenschweres Wirtschaftsförderprogramm realisierten – und auch damit den Grundstein für eine kulturpolitische Offensive legten. Mit dem Journalisten Harold Kaplan hatte die CIA auch schon einen Mann in der Pariser Botschaft, der Verbindungen zu prominenten Existenzialisten pflegte.

Auch ohne geheimdienstliche Nachhilfe zeigten sich Beauvoir und Sartre auf ihren verschiedenen Reisen sehr aufgeschlossen für die USA und ihre Bürger. Sartre: „In Amerika gilt jemand, der eine Ungerechtigkeit aufdeckt, dagegen als ein Wegbereiter für Reformen, weil sie oder er den Blick in die Zukunft richtet.“ Albert Camus hingegen kam deutlich ernüchtert zurück. Auf einer fünfwöchigen Einladungsreise mit verschiedenen Vorlesungen gewann er den Eindruck: „Das Geheimnis jeder Unterhaltung hier besteht darin, zu reden, um nichts zu sagen.“

Auffällig im Vergleich zu den 30er Jahren, als französische Intellektuelle schon einmal auf Pilgerreise gingen, ist das diametral veränderte Ziel. Nicht mehr Moskau wie zu Zeiten eines André Gide heißt das Ziel. Die neue Destination heißt: Go west, young man, go west. Umgekehrt wurde Frankreich zum neuen, alten Traumziel einer Generation junger Amerikaner, die sich wie Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrem starken Dollar in der Tasche als kleine Könige in Paris fühlen konnten. Dieser Traum sollte erst mit dem Vietnam-Krieg und der Studentenrevolte Risse bekommen.

Michael André

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Cover: © Klett-Cotta

Agnès Poirier: An den Ufern der Seine

Die magischen Jahre von Paris 1940 – 1950x

Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2019

25,00 EUR (D), 25,80 EUR (A)

(Aus dem Englischen von Monika Köpfer)

508 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Bildteil

Alternative: E-Book

Bild ganz oben: Buchcover (Ausschnitt)| Agnès Poirier: An den Ufern der Seine | © Klett-Cotta