Vulgarisatoren und Nihilogen

Honoré de Balzac und seine gnadenlos einseitige Abrechnung mit der Pariser Presse des frühen 19. Jahrhunderts

„Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“. Diesen Satz schrieb der junge, junghegelianisch beeinflusste Karl Marx in den ersten Monaten seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung. Eine hehre, idealistische Forderung, die für Generationen von aufgeklärten Journalisten zum Leitsatz im Kampf gegen bornierte Verlegerinteressen wurde. Dieses Postulat stellte Marx in der von preußischer Zensur beherrschten, aber ökonomisch verschlafenen rheinischen Provinz auf. Hätte Marx so wie der Schriftsteller Honoré de Balzac 1841 bereits in der Metropole Paris gelebt, wäre ihm dieser Satz vermutlich nicht eingefallen. In der Julimonarchie des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe gab es natürlich auch eine Zensur, gleichwohl hatte sich die Presse bereits zu einem blühenden Gewerbe entwickelt. Der Balzac-Biograph Johannes Willms spricht von „der eigenartigen Welt des Pariser Journalismus, in der es von halbseidenen Talenten, verkannten Genies, Hochstaplern, Betrügern und Leuten, die ihre Feder für ein warmes Mittagessen so gut wie jeder gängigen Weltanschauung liehen, wimmelte.“ Selbst der große Realist Balzac konnte der Faszination dieses Zwischenreichs der Zeitungen nicht widerstehen. Jedenfalls nicht in seinen frühen Jahren. Da war er selbst Mitarbeiter verschiedener Publikationen, versuchte sich selbst sogar als Verleger. Doch die Chronique de Paris war trotz prominenter Mitstreiter ein kommerzieller Fehlschlag und endete für Balzac mit massiver Verschuldung.

Allein aus diesem finanziellen Debakel den radikalen Bewusstseinswandel des Honoré de Balzac zu erklären, greift wahrscheinlich zu kurz. Auffällig ist jedoch, wie Liebe in Hass, Sympathie in Verachtung umgeschlagen ist. Der alte Kalauer, wonach die schärfsten Kritiker der Elche früher selber welche waren, trifft auf Balzac wunderbar zu. Ein Mann entdeckt seine wahre Berufung zum Schriftsteller und rechnet gnadenlos mit der alten Zunft ab. Er verfasst eine „Typenlehre“ und beschimpft darin seine alten Kollegen als Vulgarisatoren, Nihilogen, Zeilenangler oder einfach nur als Langeweiler. Balzac erweist sich in diesem Text als begnadeter Polemiker, der zu gültigen Aussagen kommt wie „das Blatt mit den meisten Abonnenten ist also das, das der Masse am ähnlichsten ist.“ Auf analoge deutsche Zeiten gewendet müsste sich hier eine Zeitung wie die Essener WAZ angesprochen fühlen. Auflagenstark, aber meinungsschwach. Oder, ein anderes abschreckendes Beispiel für journalistisches Arbeiten: „Erst draufhauen, dann klären.“ Nicht nur die Boulevardpresse kann sich bei diesem Balzac-Satz an die Nase fassen.

Leider leidet dieser Rundumschlag eines großen Schriftstellers unter mehreren blinden Flecken. Einmal unter dem völligen Fehlen von Selbstkritik. Nie spricht der Autor der „Edelfedern, Phrasendrescher und Schmierfinken“ – so der deutsche Titel – unmittelbar von sich selbst, von eigenen Fehlern und Versagen. Vielmehr erweist sich Balzac als der typische Künstler, der Lob zwar gern entgegennimmt, auf Kritik aber mimosenhaft reagiert und seine Kritiker mit ostentativer Verachtung straft. Wobei nicht verschwiegen sein soll, dass in einer Pariser Zeitungswelt, wo alles käuflich war, und die Macht des Kritikerworts oft mehr zählte als der Satz eines Romanciers, Verbitterung durchaus berechtigt sein konnte.

Mit seiner „Typenlehre der Pariser Presse“ von 1843 erweist sich Balzac als Kind seiner Zeit. Er versucht die Welt der Lebewesen nach dem Vorbild der Naturforschung zu klassifizieren und systematisiert sie gar noch in einer „synoptischen Tafel“. Die Suche nach Ordnung geht in diesem Fall mit Verachtung für die eingeordneten „Objekte“ einher. Das macht die Sache auf die Dauer öde. Wo jeder sein Kästchen hat und in eine Schublade eingeordnet wird, da bleibt nur wenig Raum für Individualität, Vielschichtigkeit und Qualitäten von Charakteren. Selbst berühmte Kollegen wie Sainte-Beuve schrumpfen zu einer „Ratte im Käse“, die es sich wohl ergehen lässt. Balzac wird hier selbst zum fragwürdigen, schrägen Journalisten, der mit dem Säbel auf seine Kontrahenten eindrischt.

Der deutsche Herausgeber der „Typenlehre“, Rudolf von Bitter, wollte dieses wortmächtige Blutbad offenbar nicht ohne Begleitung erscheinen lassen. Er hat dem Text außer seinem langen und ausführlichen Nachwort und verschiedenen anderen Balzac-Fundstücken auch noch eine zeitgenössische Gegenrede beigefügt. Jules Janin, ein Mann mit legendär schlechtem Ruf unter den Pariser Großkritikern, fühlte sich von Balzacs Pamphlet so getroffen, dass er zu einem nicht minder heftigen Gegenschlag ausholte. Darin heißt es: Wenn sich Monsieur de Balzac vom Leben vernachlässigt fühle, dann solle er nicht der Pariser Presse die Schuld geben, sondern den „Launen des Lesers“. Und die hätten offenbar genug von der „ungeheuren Menge von Erzählungen“, die in eine „immer gleiche Form gegossen“ sind. Über die Qualität der Balzacschen Geschichten hat die Literaturgeschichte bekanntlich anders als dieser in Vergessenheit geratene Kritiker entschieden. Aber trotzdem berührt Janin einen zentralen Punkt: Auch die Leser tragen Verantwortung, auch sie haben Macht. Der Leser ist nicht nur ein leeres Gefäß, in den Text, Inhalt, Content etc. geworfen wird und dessen Reaktion sich auf alibihafte Leserbriefe beschränkt. Er kann den Journalisten auf die Finger sehen und die Wahrheit in ihren Texten ermessen. Heute mehr denn je. Wobei nicht alles, was zu lesen ist, das Werk einer „Lügenpresse“ ist. Das ist ein Kinderglaube, den Balzacs gnadenlos einseitige „Typenlehre“ literaturhistorisch Vorschub zu leisten vermag.

Michael André

Bild oben: Cover Ausschnitt | Manesse-Verlag

Von Edelfedern Phrasendreschern und Schmierfinken von Honore de Balzac

Cover © Manesse-Verlag

Honoré de Balzac: Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken. Die schrägen Typen der Journaille
Hrsg. Rudolf von Bitter
Manesse-Verlag, 316 Seiten, 19.95 Euro
Kindle-Edition 15.95 Euro