Halbzeit auf dem Lido di Venezia

Knapp die Hälfte der Wettbewerbsfilme ist gelaufen. Ein Spiegel des gegenwärtigen internationalen Filmangebots. Erfreulich: Es gibt noch ein Kino für Erwachsene, in dem nicht die Computertechnik das A und O ist, sondern das Erzählen von Geschichten, die menschliche Wirklichkeit reflektieren.

Der wohl erstaunlichste Beitrag auf der Jagd nach dem Goldenen Löwen bisher: „Himizu“ aus Japan. Gezeigt wird eine Gesellschaft, die vom Schock der Atomkatastrophe von Fukushima schwer angeschlagen ist. Im Zentrum steht der fünfzehn jährige Sumida, der von seinen Eltern verlassen wird. Der alkoholkranke Vater hat sich schon vor längerer Zeit verabschiedet, taucht immer mal auf, wenn er um Geld betteln will, die Mutter entflieht der Tristesse eines Tages überraschend mit einem Liebhaber. Allein in einer Hütte am See, versuchend, das klägliche Geschäft als Bootsverleiher aufrecht zu erhalten, muss der Sohn zusehen, wie er zurecht kommt. Nur ein paar geistig nicht sehr rege ältere Männer, durch Atomkatastrophe und Tsunami obdachlos geworden, sind in seiner Nähe. Und dann gibt es ein junges Mädchen, ebenfalls aus schrecklichen familiären Verhältnissen kommend, dass sich dem Teenager geradezu aufdrängt. Sumida aber versinkt mehr und mehr in einer Welt des Schreckens. Kaum fähig, über Worte oder Gesten zu kommunizieren, droht ihm die Verwandlung in ein gewalttätiges Monster.

Drehbuchautor und Regisseur Sono Sion, der zum Film von einem Roman angeregt wurde, hat unmittelbar auf die Ereignisse von Fukushima reagiert und das Skript umgeschrieben. Es ist bemerkenswert, wie kraftvoll er die Einflüsse des gesellschaftlichen Horrors auf die Psyche von Menschen spiegelt. Allerdings macht er es dem Publikum nicht einfach. Die verbalen und körperlichen Gewaltausbrüche der Protagonisten hat er sehr direkt inszeniert, so dass man fast unentwegt Zeuge brutaler Szenen ist. Man fühlt sich als Betrachter überaus bedrängt. Das hat auch etwas Erschlagendes. Andererseits sorgt diese Intensität dafür, dass man nicht einfach aus dem Kino geht und den Film abhakt. Eine Qualität, die Jurys schätzen. Gut möglich, dass „Himizu“ am Samstag mit zu den Siegerfilmen gehört.

Emotional macht es einem der englische Spielfilm „Tinker, Taylor, Soldier, Spy“ (Dame, König, As, Spion) nach dem gleichnamigen Roman von Johnle Carré viel einfacher. Gegen den Kalten Krieg ist schließlich jeder – und jeder ist auch froh, dass der vorbei ist. Wobei einen schließlich angesichts der Ost-West-Spionagestory aus den 1970-er Jahren der düstere Gedanke beschleicht, auch in der Gegenwart könnte es ja sein, dass die Geheimdienste diverser Staaten nach wie vor einen viel zu großen Einfluss auf das Weltgeschehen haben.

Den kühlen, von britischem Understatement geprägte Thriller um den aus dem Ruhestand reaktivierten Geheimagent George Smiley (Gary Oldman) hat der aus Schweden stammenden Regisseur Tomas Alfredson stimmig inszeniert. Die Spannung ist wohl dosiert. Großartige Schauspieler auch in kleinen Rollen, wie etwa Colin Firth und John Hurt, geben dem Film eine wirkliche Klasse. Gary Oldman sowieso. Er gilt nun, neben Michael Fassbender, als weiterer Spitzenkandidat für die Auszeichnung als bester Schauspieler. Zu Recht. Denn gerade seine differenzierte Charakterisierung öffnet den Blick auf die über allem Geschehen stehende Frage, die dem Katz-und-Maus-Spiel der Agenten, Doppelagenten und Gegenagenten Gewicht gibt: Warum eigentlich sind Tugenden wie Anstand, Loyalität und Idealismus heutzutage kaum mehr zu finden?

Viel Streit unter den Kritikern ausgelöst hat „Tao jie“ (A simple Life), hier als Ko-Produktion Hong Kong/ China annonciert. Der sehr rührende Film zeigt, wie ein junger Mann eine alte Frau, jahrzehntelang Dienerin in seiner Familie, am Ende ihres Lebens in einem Altenheim begleitet. Warum Streit? Weil viele meinen, der Film sei pure Propaganda und zeige der Welt ein geschöntes Bild vom Leben in Hong Kong und damit in China, weil er so tue, als funktioniere das, was wir hierzulande den Generationenvertrag nennen, reibungslos.
Gut möglich, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist. Doch kann man den Film auch als Plädoyer für sehr viel mehr Aufmerksamkeit gegenüber hinfälligen Menschen sehen. Und da wirkt dann gar nichts mehr geschönt – und da ist es dann auch keine Geschichte mehr aus diesem oder aus jenem Land, sondern aus einer mittelständischen Gesellschaft schlechthin. Und um die steht es derzeit ja wohl nirgendwo wirklich gut.

 

Peter Claus aus Venedig, 5. September 2011

Bild: Himizu (la Biennale di Venezia © 2011)