Das Wetter am Lago Maggiore verleitet zum Ausbüchsen. Sonne satt, aber nicht zu heiß. Der Regen ist schönstem Sommerflair gewichen. Doch die Festivalgemeinde ist eisern: Mehr als eine Zigarettenpause ist nicht drin, schon geht’s wieder in eines der tief gekühlten Kinos. Dort, gut so, läuft ein durchaus heißes Programm. Die Genusssüchtigen laben sich an der Lubitsch-Retro, schmachten Marlene Dietrich an oder Claudette Colbert. Die Traumfabrik triumphiert.

Locarno, 07. August 2010:

Im internationalen Wettbewerb werden hingegen vor allem Alpträume geboten. Die Mehrzahl der Filme spiegelt – dabei psychologisch genau, soziale Gegebenheiten deutlich aber nicht vordergründig spiegelnd – die Wirklichkeit der westlichen Welt. Armut, Zukunftsangst, Leben im Abseits – das sind die entscheidenden Stichworte. Auffallend: durchweg begeistern exzellente Schauspielerinnen und Schauspieler in den Hauptrollen. Das rettet so manchen Film, bei dem die Dramaturgie holpert. Zum Beispiel den deutschen Wettbewerbsbeitrag „Im Alter von Ellen“ (At Ellen’s Age) von Regisseurin Pia Marais. Hauptdarstellerin Jeanne Balibar, in ihrer Heimat Frankreich mit Preisen für die feinsinnige Interpretationen diverser Theater- und Filmrollen mit Preisen geradezu überhäuft, ist das A und O des Films. Die Story ist eher Durchschnitt: Frau jenseits der Jugend gerät, weil Kerl sie verlässt, in eine Krise und muss versuchen, aus dem seelischen Tief heraus zu neuen Ufern aufzubrechen. Das haben wir schon x-Mal gesehen, und schon oft packender. Doch die minimalistische Darstellung der Ellen durch Jeanne Balibar macht dieses Manko wett. Mit scheinbar nichts – ein schiefes Lächeln, eine fahrige Handbewegung – macht sie die Innenwelt der Ellen sichtbar – und neugierig darauf, wie es mit ihr weitergeht. Jeanne Balibar gilt hier als erste Kandidatin für eine Auszeichnung als beste Schauspielerin.

Press Conference, Jeanne Balibar, actress „Im Alter von Ellen“ (© Festival del film Locarno/Daulte)

Konkurrenz macht ihr Ex-Bond-Girl Eva Green in „Womb“, eine deutsch-ungarisch-französische Gemeinschaftsproduktion. Regisseur Benedek Frühauf erzählt eine hanebüchene Geschichte um eine Frau, die ihren bei einem Unfall ums Leben gekommenen Liebsten klonen lässt, im Mutterleib austrägt und dann groß zieht – bis es zum Eklat kommt. Frühauf ist ein geschickter Handwerker, er versteht es, spannungsgeladene Tableaus zu arrangieren, Bild und Musik atmosphärisch dicht zu montieren, Schauspieler dezent zu führen. Leider versteht er sich weniger gut auf Dialogführung. Mancher Satz wirkt unfreiwillig komisch und stört. Doch auch hier: die Präsenz der Hauptdarstellerin entschädigt. Eva Green ist nicht nur bildschön, und erinnert an die junge Charlotte Rampling, sie ist auch eine wirklich gute Schauspielerin, die scheinbar allein in ihren Augen die ganze Welt widerspiegeln kann. Leoparden-Kandidatin Nummer zwei.

Eva Green und Matt Smith in WOMB, © Peter Szatmari

Nach wie vor gibt das europäische Kino den Ton an. Das ist erfreulich. Die Mode, die seit Jahren auf vielen Festivals grassiert, auf Teufel komm raus, „Exotisches“ aus weiter Ferne a priori abzufeiern, wird hier nicht mitgemacht. Und, siehe da: Exotisches gibt es in Europa zuhauf. Insbesondere der Osten lädt zu Entdeckungen. Die französisch-rumänisch-ungarische Produktion „Morgen“ von Regisseur Marian Crisan ist dafür ein gutes Beispiel. Unaufgeregt erzählt der Film vom bescheidenen Leben an der rumänischungarischen Grenze. Der „Durchlauf“ Illegaler, die etwa von der Türkei Richtung Deutschland wollen, ist hier alltäglich. Niemanden kümmert’s. Es sei denn, man kommt plötzlich mit einem der Grenzgänger direkt in Kontakt. Nelu, einem angejahrten Sicherheitsbeamten in einem Billig-Supermarkt, passiert genau das. Der leidenschaftliche Angler „fischt“ einen Türken aus dem Fluss. Was tun? Den Mann an die Behörden ausliefern, wie es Nelus zänkische Frau will, oder sich, allen eigenen Problemen zum Trotz, auch noch die Schwierigkeiten des Fremden aufhalsen. Nelu kann nicht anders, er will dem „armen Schwein“ helfen. Ganz klar: Turbulenzen sind angesagt. – Der Film besticht mit seiner lakonischen Erzählweise. Weder kommt es zu hysterischer Dramatik, noch zu billiger Komik. Regisseur Crisan ist ein leiser Beobachter, der seinen Figuren zwar auf die Pelle rückt, ihnen aber nicht zu nahe kommt. Die Würde der Protagonisten, die es alles andere als leicht haben, eben diese Würde in einer nur noch auf Profit ausgerichteten Warenwelt zu erhalten, wird nie beschädigt. Ein Film von nachhaltiger Wirkung. Und ein Film, der einem einen gehörigen Schreck einjagt: Die neue Freiheit unserer neuen Welt zeigt sich in Europa vor allem in einem: Ob in Ost oder West oder Süd oder Nord – allüberall finden sich die gleichen Supermarkt-, Tankstellen- undsoweiter Ketten, die uns den abgestandenen Duft der großen weiten Welt andrehen wollen. Uninformiertheit ist angesagt. Wer da raus will, eckt schnell an. Filme, wie die in Locarno aber, machen den Mut, sich nicht abschrecken zu lassen und das Risiko einzugehen, sich ab und an mal eine Beule zu holen. Das stärkt den aufrechten Gang. Der viele Festivalbesucher sofort auch nicht zum nächstgelegenen Supermarkt-Kühlschrank fürs Mittagsmahl führte, sondern in eine der kleinen Beizen in den Gassen Locarnos, wo es noch immer heißt: „Hier kocht Mutter.“ Da ist man doch stolz, wenn man dem internationalen Kapital schon mit dem Biss in ein hausgemachtes Croissant ein Schnippchen schlägt.

Text: Peter Claus