Politik im Fokus

In Venedig hat das politisch engagierte Kino immer eine Hauptrolle gespielt – im Schlechten, zur Zeit des Faschismus, wie im Guten, nach dem Zweiten Weltkrieg, da hier der wache gesellschaftskritische Film stark gefördert wurde.

Zu den starken Filmen dieser Art gehört in diesem Jahr auch der so genannten „Überraschungsfilm“. Der künstlerische Direktor, Marco Müller, präsentiert einen solchen alljährlich. Diesmal kam er, wie schon oft zuvor, aus China, allerdings handelt es sich um eine französisch-belgische Koproduktion: „The Ditch“ (Der Graben).

Ausgehend von Interviews mit Betroffenen und von einem Roman, blickt Autor und Regisseur Wang Bing rund fünfzig Jahre zurück. Ende der 1950-er Jahre wurden Tausende Intellektuelle, Regimekritiker und Menschen mit angeblich großbürgerlichem Hintergrund in „Umerziehungslager“ geschickt. Unter den unwürdigen, grausamen Bedingungen, von Hunger und Durst gequält, mangelnden hygienischen Bedingungen ausgesetzt, und nicht zuletzt seelisch und körperlich gequält, starben Unzählige. Der Film zeigt ein solches Lager des Schreckens im Herz der Wüste Gobi. Die Gefangenen hausen in Erdlöchern. Leben ist hier nicht möglich, der Kampf ums Überleben furchtbar. Nur ein Beispiel: Oft ernährten sich Menschen vom Erbrochenen anderer, weil es absolut keine Nahrung gab. Und es passierte noch vieles andere Unvorstellbare. Der Film zeigt das Grauen kühl, aber mit Anteilnahme für die Opfer. Leider erschöpft er sich im Vorführen des Elends. Es fehlt an Emphase. Dadurch wird es dem Zuschauer sehr schwer gemacht, eine wirkliche Anteilnahme zu entwickeln. – Mitte der 1980-er Jahre gab es einen der ersten Spielfilme aus China zum Thema „Kulturrevolution“: „Die Stadt Hibiscus“. Da wurde anhand eines Einzelschicksals überaus eindringlich der Terror der pseudokommunistischen Diktatur deutlich. Das fehlt hier. Regisseur Wang Bing hätte vielleicht mit einer Dokumentation, mit Interviews mit ehemaligen Gefangenen mehr Wirkung und Nachhaltigkeit erzielt.

In Venedig macht jetzt die Frage die Runde, wie wohl die offiziellen Staatsbeamten auf den Film reagieren. Wird er dazu beitragen können, das verdrängte Grauen ins öffentliche Bewusstsein zu holen, den einstigen Gefangenen sogar eine „Wiedergutmachung“ bringen?

Und noch ein Rätsel-Film: Vincent Gallo, der vor Jahren mit seinem Regiedebüt einen saftigen Skandal in Cannes ausgelöst hat, zeigte seinen neuen Film „Promises Written in Water“ – mit sich als Hauptdarsteller, Autor, Regisseur, Produzent, Komponist. Gallo spielt einen Bestatter. Eine Freundin von ihm ist tot. Die Beiden waren sich sehr nah. Er erinnert sich ihrer per Videos. – Der Film ist in schwarz-weiß gehalten. Oft ist minutenlang nichts zu sehen als der rauchende Vincent Gallo. Manche Dialoge werden x-Mal wiederholt. Eine wirkliche Handlung gibt es nicht. Möglich ist, dass Vincent Gallo mit dem Film über die Schwierigkeit des Trauerns nachdenken möchte. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Mit seiner überstrapazierten Langsamkeit ist der Film tatsächlich eine Zumutung. Aber der Zwang, den Tod eines geliebten Menschen zu ertragen, ist das auch. – Nach der Vorführung gab es viele Buh-Rufe. Das finde ich ungerechtfertigt. Sicher: Gallo hat kein Meisterwerk abgeliefert. Aber es ist doch durchaus bemerkenswert, dass sich ein Künstler allem Gängigen verweigert. Und ich finde es auch gut, dass mal jemand fern von Kitsch versucht, dem Schmerz des Trauerns eine filmische Entsprechung zu geben. Es darf doch nicht nur leichtverdauliche Kost im Kino geben. Und ein Festival ist genau der richtige Ort, so Ungewöhnliches vorzustellen.

Peter Claus