Viel Zuspruch, aber wenig Mut

Der deutsche Film der jungen Bundesrepublik produzierte, wenn er künstlerischen Ansprüchen genügen wollte, Problemfilme. Dabei kam er selbst „als Problemkind zu Welt“, wie Olaf Möller im Vorwort zum Sammelband „Geliebt und verdrängt“ schreibt. Die schwere Geburt hinterließ Spuren. Die Angst vor dem finanziellen Bankrott und dem ästhetischen Scheitern ließ die Filmbranche der 50er Jahre nie richtig los. Das sogenannte Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre führte zwar zu einem Run auf die Kinos und zu einer neuen, ungeahnten Beliebtheit der Stars. Aber weder bei den Produzenten noch ihren Kreativen bewirkte der ökonomische Erfolg nachhaltig mehr Mut. Stattdessen galt wie in der Adenauer-Politik die Devise „Keine Experimente“. Selbstbewusstsein konnte der deutsche Film jener Jahre auch gar nicht entwickeln, würde Claudia Dillmann antworten. Die deutsche Filmproduktion war und blieb in der Hand einiger großer Verleiher und neureicher Kinobesitzer. Die Verleiher finanzierten mit Vorschüssen neue Filme. Ihre Handlungsmaxime war der angeblich untrügliche Zuschauergeschmack. Und das Publikum war stockkonservativ. Dabei blieb es aber nicht, die Abhängigkeit und Einmischung ging bis zu ästhetischen Grundsatzfragen. So waren Rückblenden bei Filmen des Gloria-Verleihs unbeliebt. „Das irritiert das Publikum“, kolportiert Mitherausgeberin Claudia Dillmann über die Gloria-Chefin Ilse Kubaschewski. Eine Beton-Haltung, die in den Köpfen mancher Filmentscheider bis heute nachwirkt.

Schuld an der deutschen Nachkriegsmisere soll laut Dillmann die Entflechtungspolitik der Alliierten sein. Die Westmächte wollten den von Goebbels geschaffenen Monolithen UFA zerstören und haben die Parzellierung der Filmlandschaft in viele kleine, unterkapitalisierte Gesellschaften billigend in Kauf genommen. Das Resultat war – neudeutsch gesprochen – eine Vielzahl von Rucksack-Produzenten, die von der Hand in den Mund lebten, sich von einer Produktion zur nächsten hangelten. Zu große Ambitionen bedeuteten Existenzgefahr. Hans Abich und der Filmaufbau Göttingen waren mahnendes Beispiel. Die Göttinger hatten sich zwar ein hohes Renommee erworben, wurden aber schnell Opfer der aufziehenden Kinokrise der 60er Jahre, schrumpften mit dem Umzug nach München und verschwanden von der Bildfläche.

Dillmanns Verweis auf die vorindustrielle Kleinteiligkeit der Branche ist richtig, kann aber nicht hinreichend das Siechtum des deutschen Films erklären. Das muss auch mit dem Desinteresse einer auf die Produktion materieller Waren fixierten Kapital-Anlegerseite zu tun haben. Beispiel Bavaria Filmkunst AG. Nach dem Weltkrieg stand sie als bayerischer Teil des ehemaligen UFI-Staatskonzern zur Disposition und ging erst 1956 in private Hände über. Die Aktien lagen für kurze Zeit bei verschiedenen Banken, darunter die Commerzbank. Auch der damals noch starke Agfa-Fotokonzern hielt Anteile. Doch die neuen Herren wussten weder mit dem Studio noch dem Verleih etwas anzufangen. Und Tradition galt nur wenig. Film galt offenbar als brotlose Kunst, hatte keine Perspektive. Nach drei Jahren war das Intermezzo vorbei. Das Fernsehen als kommende audiovisuelle Macht in Gestalt der Werbetöchter von WDR und Süddeutschem Rundfunk übernahm das Kommando in Geiselgasteig. Eine folgenreiche Entscheidung, vielleicht auch eine verpasste Chance für eine finanzkräftige deutsche Filmgesellschaft.

Die Monopol der UFA mochte wohl zerschlagen sein, aber die Brigaden ihrer Techniker, Künstler und SchauspielerInnen existierten und machten natürlich im alten Metier weiter. Wenn sie nicht bei der DEFA in Babelsberg untergekommen waren und sich mit den neuen politischen Gegebenheiten in Ostdeutschland arrangiert hatten, dann suchten und fanden sie Arbeit bei einer der vielen Filmproduktionen in der Bundesrepublik. Indes: So wie das Publikum nach einer kurzen Schreckphase wenig Interesse an Neuerung und Selbstbefragung zeigte, so wenig sahen auch die Akteure vor und hinter der Kamera Anlass, sich neu zu erfinden. Sehr schön fasst Werner Sudendorf in seinem Aufsatz zum Melodram, das damals noch Problemfilm hieß, dessen restaurative Ästhetik zusammen: „Alles war fast so wie früher. Die Ausleuchtung der Gesichter, die unsichtbare, fließende Montage. Dialoge im Schuss-Gegenschuss, und dann mal, ganz gewagt, ein Kamerablick von unten oder eine dämonische Lichtsetzung.“ Die Darsteller, die das Publikum im dunklen Kinoraum erblickte, die Namen, die es auf den Plakaten las, waren ebenfalls altbekannt. Von Abgängen wie Heinrich George, von Remigranten wie Peter Lorre oder jungen Gesichtern wie Horst Buchholz mal abgesehen, war die alte Filmfamilie wieder fast vollzählig beisammen. Selbst „Jud Süss“-Regisseur Veit Harlan konnte wieder drehen.

Bei seiner Genre-Untersuchung stößt Sudendorf auf viele Filme, die von Verlust und Gefahr erzählen, in denen anfänglich guter Willen fatale Ergebnisse zeitigt, wo Krankheit und Tod gerade die Unschuldigen treffen. Gleichzeitig versprechen die Melodramen wundersame Heilung. Eine Diagnose oder Ursachenforschung muss nicht gestellt werden. Es genügt eine Symptombehandlung. Kein Wunder, dass ein Film wie „Dr. Holl“ (1950/51) mit Dieter Borsche massenhaften Erfolg hatte. „Manche sehen in Dr. Holl die Geburtsstunde des Arztfilms, aber es war doch eigentlich nur die Wiederkehr des Märchenfilms für Erwachsene“, schreibt Sudendorf nicht ohne Sarkasmus.

Selbst bei den avancierten Produktionen jener Zeit, die nicht im Verdacht stehen, bloße Unterhaltung zu betreiben oder eskapistische Sehnsüchte zu stillen, sind partielle Blindheiten unübersehbar. In Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ (1957) ist die Phase der Sprachlosigkeit beim Thema Zweiter Weltkrieg überwunden. Aber selbst dieser überdurchschnittliche Film kommt ohne eine innere Schranke nicht aus: Die SS verbreitet Angst und Schrecken, setzt sich über alle Gesetze hinweg, lebt in Saus und Braus, wo Deutschland in Schutt und Asche fällt. Das Böse des Nationalsozialismus wird an eine metaphysische Instanz namens Teufel delegiert. Die Wehrmacht erscheint demgegenüber noch als ein sicherer Hafen in rauer See. Auf soldatische Kameradschaft man sich wenigstens noch verlassen. Der Mythos „vom einfachen Landser als Opfer eines Unrechtssystems“ (Marcus Stiglegger) wird am Leben gehalten. Die gleiche Legende umgibt jene aristokratischen Offiziere, die sich am 20. Juli 1944 erheben und über das Scheitern zu tragischen Widerstandshelden wurden. Für ihr heroisches Angedenken stehen Namen wie G.W. Pabst, Falk Harnack, später auch Hans Schweikart im Fernsehen. Historische Schuld wird nicht geleugnet, sie wird aber ausgelagert an kleine, fanatische NS-Kollektive und an demagogische Verführer. So bleibt die Seele des Volks rein.

In seinen anspruchsvollen Filmen bettelte der deutsche Film der Ära Adenauer geradezu inständig um die zweite Chance, um einen Lichtsteifen am grauen Horizont. Manche der Autoren des vorliegenden Buchs – etwa Dominik Graf – beklagen, dass dem Kino jener Jahre in der Existenzkrise diese Chance verweigert wurde. Kein fließender Übergang sei eingetreten, stattdessen der radikale Bruch. Erst der Autorenfilm, dann das Fernsehen. Aber ist das wirklich so? Hat nicht ausgerechnet R.W. Fassbinder, dieser unbedingte Verfechter der Authentizität und des Anti-Theaters, in seinen späten Jahren eine große Wiederentdeckung der frühen bundesdeutschen Kinojahre und seiner Stars betrieben? Nur, dass die Altstars wie Karl-Heinz Böhm bei ihm entkleidet von Talmi und falscher Aura erscheinen. Ausgerechnet im Herzen des Autorenfilms findet sich eine intelligente Form von Kontinuität im Filmdenken. Leider wird dieser Aspekt im Buch nicht weiter verfolgt.

Trotzdem: Es spricht für eine liberale Bandbreite bei der Auswahl der Autoren, dass in einem Buch, das sich die Erinnerung wie die Ehrenrettung eines Kapitels deutscher Filmgeschichte auf die Fahnen geschrieben hat, auch viele nachdenkliche bis kritische Überlegungen finden. Pate könnte bei der Auseinandersetzung mit Vergangenheit der Blochsche Begriff aus der „Erbschaft dieser Zeit“ gestanden haben: „Hier wird breit gesehen“. Oder wie Herausgeber Olaf Möller sein Erkenntnisinteresse zu den Filmen der Adenauer-Zeit formuliert: „Die Qualität dieses Schaffens zeigt sich auch darin, dass es immer noch Antwort bereithält“. Dieser Satz ist so vieldeutig wie ausbaufähig. Über die Lektüre der üppig illustrierten Aufsätze werden viele Details wach, verschüttete Erinnerungsstränge werden freigelegt. Aber es wird auch offenbar, warum diese Filmepoche kollabieren musste. An sich selbst. Und nicht erst durch das Oberhausener Manifest von 1962. Längst vorher.

Michael André

 

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Geliebt-und-verdrängt-300Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963

Herausgeber: Claudia Dillmann und Olaf Möller

Frankfurt 2016

Broschiert, 415 Seiten mit 270 Abbildungen

24.80 Euro